Sonntag, 8. Mai 2011

Jerusalem, Siedlung Efrat - 08. 05.

Schon der erste Blick vom Ölberg auf die Jerusalemer Altstadt, auf den Tempelberg mit dem Felsendom und auf die tiefe Schlucht darunter, das Tal Joschafat, weckt viele Fragen.

Der Tempelberg

Dr. Gil Yoran, Buchautor, Nahostkorrespondent und Arzt führt uns in seinem geradezu fesselnden Vortrag in die wechselvolle und komplizierte Geschichte der Stadt ein. Er stellt die Frage: Ist sie nun die Quelle des Friedens oder die Krippe des Konflikts? Und vor allem: Warum ist gerade Jerusalem, diese strategisch total bedeutungslose Stadt, zu einem der größten Unruheherde in der Geschichte der Menschheit geworden? Auch die dokumentierte Geschichte liefert auf diese Frage keine plausible Antwort. Denn in Jerusalem zählen nicht historische Fakten, sondern der Glaube, der sich auf die kanonische Geschichtsschreibung stützt, den man nicht mit tatsächlicher Geschichte verwechseln sollte. Kaum ein anderer Ort hat für die drei großen monotheistischen Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam - so große Bedeutung, wie Jerusalem. Und Yaron präsentiert uns ein Foto, durch das sich der Konflikt am besten veranschaulichen lässt: Es zeigt den Tempelberg, wo sich der Stein der Schöpfung, auch Gründungsstein genannt, befindet. Er ist aber auch „ein Zankstein“, wie  sich erweist…

Dr. Gil Yoran während des Vortrags

Eine kurze Einführung in die Geschichte des Tempelbergs:

Für Juden ist er der Felsen, an dem die Schöpfung der Welt anfing und wo Abraham bereit war, seinen Sohn Isaak zu opfern. Hier wurde auch Abel von seinem Bruder Kain getötet. An dieser Stelle auf dem Hügel Morija errichteten die Juden 900 v. Chr. ihren ersten Tempel. 586 v. Chr. wird der Tempel von den Babyloniern zerstört und die Juden verschleppt. Als sie nach 50 Jahren der babylonischen Gefangenschaft zurückkehren, erbauen sie an derselben Stelle den sogenannten Zweiten Tempel. Später blüht die Stadt unter der römischen Herrschaft auf und der Tempelberg wird zu dem wichtigsten religiösen und wirtschaftlichen Zentrum jüdischen Lebens. Doch im Jahre 70 n. Chr. zerstören die Römer den Tempel. Von ihm bleibt nur noch die Westmauer übrig, von den Christen später  „die Klagemauer“ genannt. Fast 2000 Jahre lang haben Juden in der Diaspora in Richtung dieser Mauer gebetet. An den Füssen des Tempelbergs liegt das Tal Joschafat, wo laut des jüdischen Glaubens das Jüngste Gericht stattfinden wird. Kein Wunder also, dass jeder Jude hier, auf dem ältesten Friedhof der Welt begraben werden will, um an Ort und Stelle zu sein, wenn die Zeit kommt. Jerusalem ist einfach in die DNS der Juden eingraviert – sagt Gil Yoran.  

Für Christen ist Jerusalem der Ort der Leiden Christi, seiner Kreuzigung, seines Grabes und schließlich - seiner Auferstehung. Auch auf dem Tempelberg schreiben sie manche Spuren Jesus zu – dort soll seine Beschneidung stattgefunden haben –  weshalb sie den Felsendom als "Templum Domini", Tempel des Herrn, bezeichneten und woher auch der Templerorden seinen Name hat.

Doch unter Christen blieb die vermutete Stelle des Tempels unbebaut, bis sie schließlich die Muslime nach der Eroberung Jerusalems 638 n. Chr. wieder zu einer heiligen Stätte machten. Der von ihnen gebaute Felsendom wurde als Schrein für den Felsen errichtet, auf  welchem gemäß islamischer Überlieferung Abraham bereit war seinen Sohn Ismael (der als ein moslemischer Prophet und der Stammvater aller Araber gilt) zu opfern und an dem angeblich ein Fußabdruck Mohammeds, sowie weitere seiner Spuren gefunden wurden. An gleicher Stelle begann die Himmelfahrt des Propheten Mohammed. Zwar wird die Stelle im Koran nur als „die entfernteste Moschee“ (17 Sura, 1 Vers) angedeutet und den Rest verdanken wir nur mündlichen Überlieferungen, doch der Tempelberg zusammen mit der al-Aqsa-Moschee gelten nach Mekka und Medina als drittwichtigste Heiligtümer des Islams. 

Die Westmauer des babylonischen Zweiten Tempels - Die Klagemauer

Kein Wunder also, dass sowohl Juden, als auch Muslime, Ansprüche auf ihre heiligen Stätten erheben. Lediglich während der Zeit der intensiven Besiedlung des Landes durch die Zionisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt Jerusalem als heiliger Ort keine große Rolle – Zionisten schauen nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. In Ost-Jerusalem auf dem Berg Skopus wird die Hebräische Universität gebaut, die als Symbol des modernen jüdischen Staates dienen und die Rolle des 3. Tempels übernehmen soll. Der Unabhängigkeitskrieg von 1948 endet jedoch mit der Teilung Jerusalems. Der Tempelberg mit der Klagemauer sowie Ost-Jerusalem gehören jetzt zu Jordanien. Erst nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 und nach der Übernahme Ost-Jerusalems mit dem Tempelberg ändert sich der Ethos der Zionisten und die religiösen Symbole des Judentums, mit Jerusalem an der Spitze als identitätsstiftender Faktor spielen für den Staat Israel wieder eine größere Rolle. Und das Land wird immer heiliger – betont Yaron.

Gleichzeitig mit den wachsenden Bestrebungen, einen souveränen Staat zu bilden, fordert die PLO schon ab 1968 die Anerkennung Ost-Jerusalems als ihre zukünftige Hauptstadt. Doch 1980 wird ein vereinigtes Jerusalem von der Knesset zur Hauptstadt Israels ernannt, was auf scharfe Kritik der internationalen Gemeinschaft stößt. Auch in der inneren Politik Israels ist das Thema möglicher Zugeständnisse Israels in punkto Jerusalem umstritten. Die angekündigte Bereitschaft des damaligen Premierministers Ehud Barak, mit der palästinensischen Seite über den Status Jerusalems zu sprechen, beantwortete der damalige Oppositionsführer Ariel Sharon im Herbst 2000 mit einem demonstrativen Besuch auf dem Tempelberg. In dessen Folge kam es zu anhaltenden Unruhen und die 2. Intifada begann.

Die Mauer zwischen Gilo und Jerusalem

Genauso streiten sich die Liberalen und die Linken mit den Konservativen und den Rechten über die Ansiedlung der Juden in Ost-Jerusalem sowie über den Bau jüdischer Siedlungen im Westjordanland. Israel scheint ein Staat zu sein, der immer wieder zwischen Demokratie und Staatsraison – was hier nicht immer dasselbe bedeutet - wählen muss, um seine Existenz zu sichern und zu bewahren. Das ist etwas, das wir Europäer allzu oft vergessen, oder missverstehen…


Die noch am Vormittag geplante Besichtigung einer Siedlung erwarte ich deshalb mit großer Spannung. Um dorthin zu fahren, steigen wir in einen gepanzerten Bus, was in dieser Gegend nichts Ungewöhnliches ist, da manchmal bei einer Durchfahrt durch die arabischen Dörfer Steine fliegen … Der Bus wird uns in die in Judäa gelegene Siedlung Efrat bringen, die sich etwa 15 km südlich von Jerusalem, zwischen Bethlehem und Hebron befindet. Wieder fahren wir an einer Mauer entlang, welche den Jerusalemer Stadtteil Gilo von Bet Jala, einem Vorort von Betlehem trennt.

Unser gepanzerter Bus

Die Mauer wurde zum Schutz der Bewohner Gilos während der 2. Intifada errichtet, als sie sich unter ständigem Beschuss von palästinensischer Seite befanden. 
Ohne Kontrolle passieren wir den „Grenzübergang“ und nach einer kurzen Fahrt erreichen wir die malerisch auf einem Hügel gelegene Siedlung. An der Einfahrt werden wir schon von Bob Lang erwartet. Der 1975 aus den USA eingewanderte Lebensmitteltechnologe und Betriebswirt ist der Leiter des Religiösen Rates in Efrat. Seine Wurzeln hat Lang in Deutschland: seine Mutter stammt aus Düsseldorf, sein Vater aus Berlin und beiden gelang rechtzeitig die Flucht vor den Nazis. Zunächst zeigt er uns die Umgebung und erklärt uns die hiesigen Verhältnisse. Efrat gehört zu der in den 70er Jahren entstandenen Gemeinschaft Kfar Zion, die aus acht nahegelegenen Siedlungen besteht. Die jüdischen Siedlungen sind an ihren roten Dachziegeln sofort zu erkennen. Dazwischen liegen arabische Dörfer mit kleinen weißen Häusern und flachen Dächern. Natürlich gebe es auch hier ab und zu Zwischenfälle, doch das Zusammenleben der Siedler mit der arabischen Bevölkerung verliefe in dieser Gegend friedlich, so Bob Lang.

Bob Lang

Die Siedlung ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Sie sieht sehr gepflegt und wohlhabend aus. Sie zählt etwa 9000 Einwohner (2000 Familien), die aus allen möglichen Ländern kommen und zu 90% religiös sind. Etwa 65% arbeiten in Jerusalem, hauptsächlich als Juristen, Ärzte oder High Tech-Spezialisten. In Efrat gibt es eine Bibliothek, ein Einkaufszentrum, ein Kulturzentrum und eine kleine Klinik, die auch für Araber aus der Gegend zugänglich ist. Ebenso wird für den Nachwuchs, also die durchschnittlich vier Kinder pro Familie gesorgt. Was erklärt, warum es hier 25 Kindergärten, drei Grundschulen, drei Oberschulen, sowie je drei religiöse Schulen für Mädchen und Jungen gibt.

Einer der vielen Kindergärten

Unser Gespräch setzen wir bei Bob Lang zu Hause fort, wo er uns mehr über sich und über die Perspektiven der Siedlungen erzählt. Als ehemaliger Sprecher des Dachverbandes der jüdischen Siedlungen im Westjordanland und Mitarbeiter von „Peace Watch“ und dem „Institute for Peace Implementation“ kennt er sich mit der hiesigen Problematik  bestens aus. „Wir müssen Wege finden, um den Dialog zu verstärken. Und er muss gegenüber den anderen genauso moralisch, anständig und ehrlich sein, wie wir gegenüber uns selbst sind“, sagt er.
Auf dem Weg zurück werden wir zum ersten Mal an dem Checkpoint gehalten. „Wohin wollt ihr?“
„Nach Jerusalem.“ 
„Fahrt weiter!“


Fotos: Anna Maria Adamczyk, Katarzyna Weintraub