Dienstag, 3. Mai 2011

Zwischen jüdischer Erinnerungskultur und Sicherheitspolitik. Tel Aviv, der dritte Teil

Es ist unmöglich, die jüdische Erinnerungskultur in Israel zu verstehen, ohne zu wissen, was die Shoah und die Religion für jüdische Israelis bedeuten. Das vermittelte uns in zwei Vorträgen Prof. Natan Sznaider, Dozent für Soziologie am Tel Aviv College.


Bis zum Eichmann-Prozess wurde die Shoah weder in der Schule, noch in der breiten Öffentlichkeit besonders ausführlich thematisiert. Das Bild der Juden als Opfer passte nicht gut zu dem Bild des „neuen Hebräers“. Auch die Überlebenden wollten die Grausamkeiten des Krieges so schnell wie möglich vergessen, um ein neues Leben in "Erez Israel" zu beginnen. Doch das änderte sich nach dem Eichmann-Prozess, der 1961 in Jerusalem stattfand. Zum ersten Mal erhielten Zeitzeugenaussagen die gleiche Gewichtung wie schriftliche Dokumente. 









Der Campus der Bar Ilan-Universität




Von nun an wurde die Geschichte der Shoah zur Geschichte des gesamten jüdischen Volkes. Es entstanden zahlreiche wissenschaftliche Institute und Bildungseinrichtungen, die sich noch heute ausschließlich mit der Geschichte der Shoah beschäftigen, in der die Zeitzeugen und die oral history eine wichtige Rolle spielen. Auch die Juden, die nicht aus Europa stammen und den Holocaust nicht selbst erlebten, haben diese Geschichte als ihre eigene angenommen. Ich habe den Eindruck, dass in der israelischen Realität die Shoah wie eine Art "staatsbürgerliche Religion" wirkt, die ein wesentliches Element der nationalen Identität ist. Und natürlich ist sie wie alles, was Gegenstand tiefer Emotionen ist, ein ideales Feld für Manipulation und Instrumentalisierung. Ein Beispiel dafür sind für mich die Reisen der israelischen Jugendlichen nach Polen, die sich ausschließlich auf die Besuche der ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager beschränken. So kommt es, dass die Polen statt der Deutschen des Holocaust beschuldigt werden. Eine Kollegin aus unserer Gruppe bezeichnete das als fatal. Ich stimme ihr zu.


Interessant fand ich Sznaiders Auffassung zur israelischen Gesellschaft, die seiner Meinung nach aus mehreren Gesellschaften bestehe. Die meisten Israelis halten sich für Europäer. In der Tat, dachte ich mir. Erkläre mal einem Israeli er sei Asiate – dann wirst du was erleben! So nimmt Israel obwohl nicht offiziell Europa zum Beispiel am Eurovision Song Contest und an den Europameisterschaften im Fußball teil. In Wirklichkeit aber liegt das Land im Nahen Osten, von Feinden umringt. Und die Gesellschaft ist alles andere als homogen. Die kulturellen Unterschiede, die sich hauptsächlich auf das Herkunftsland der Familie und auf die religiöse Einstellung beziehen, sind enorm. Dennoch ist Sznaider der Meinung, dass gerade die Religion das Bindemittel der Gesellschaft sei. Sie erklärt nicht nur, sondern legitimiert auch die Existenz des gemeinsamen Staates in der Region. Ohne Religion sei der Zionismus nicht zu begreifen. Auch die säkularen Juden seien von der Religion nicht frei. Sie ist überall präsent – im Alltagsleben, in Kultur und Geschichte, in der Politik, und last but not least – in der hebräischen Sprache. Für alles, auch die Dinge, die heute geschehen, findet man entsprechende Stellen in der Thora. (Beispielsweise wird der 6-tägige Krieg 1967 hier von manchen unmittelbar mit der Schöpfung der Welt in sechs Tagen assoziiert!)







Professor Inbar am Rednertisch



Schon ein paar Stunden später bekräftigt das auch Prof. Ephraim Inbar von der Bar Ilan-Universität, indem er sagt: „schon zweimal haben wir unser Land verloren, und das dritte Mal lassen wir es nicht zu.“ Damit meint er die Verschleppung der Juden nach Babylon (586 v.Chr.) und die Vertreibung aus Israel nach der Zerstörung des Zweiten Tempels (70 n.Chr.). Die Bar Ilan-Universität ist eine religiöse Hochschule (dennoch studieren hier nicht nur religiöse Juden, sondern auch arabische Israelis und säkulare Juden) und Ephraim Inbar ist im Lande einer der bekanntesten Sicherheitsexperten. Er gehört zum konservativen Flügel und ist der Meinung, dass Israel ausschließlich auf sich selbst gestellt sei, daher steht die Sicherheit des Landes für ihn an erster Stelle. Die Legitimation dafür gibt ihm die Geschichte. Die (negativen) Reaktionen der internationalen Gemeinschaft und Kritik sind für ihn daher von geringer Bedeutung.










Der Markt in Tel Aviv




Am Nachmittag erwartet uns eine Filmvorführung im Hotel. Chanoch Zeevi, ein junger Filmemacher hat gerade im Rahmen eines Projekts einen Dokumentarfilm gedreht. In „Hitler Kinder“ lässt er Kinder, Enkelkinder und weitere Verwandte von hohen Funktionären des Nationalsozialismus zu Wort kommen. Unter anderen die Nachkommen von Heinrich Himmler, Hermann Göring und Rudolf Höß erzählen, was diese Bürde für sie bedeutet und wie sie ihr ganzes Leben geprägt hat. Es ist ein zweiter Teil geplant, in welchem er mit Kindern und Enkelkindern der Opfer sprechen wird. Wie viele Israelis der jüngeren Generation spürt er ein dringendes Bedürfnis, einen Dialog zwischen den Nachkommen beider Seiten zu initiieren. Nur durch Dialog könne man in den zwischenmenschlichen Beziehungen etwas bewegen, meint er.








Der junge Or Ben Ezra - einer von vier Nightguides




Am Abend empfangen wir vier junge Leute, die sich vorgenommen haben, uns das Nachtleben in Tel Aviv zu zeigen. In kleinen Gruppen machen wir uns in die Stadt auf. Ich schließe mich Or Ben Ezra an. Er führt uns in ein kleines Restaurant in der Innenstadt, wo wir beim köstlichen Essen über dies und jenes plaudern. Er will von uns vieles wissen, und wir von ihm. Or studiert Theaterwissenschaften und ist ein Musiker. Seine Familie stammt aus dem Iran und betreibt einen Catering-Service für persische Küche, um sein Studium zu finanzieren. Die Studiengebühren sind hoch – etwa 3000 Dollar pro Jahr. Dabei kommen wir auf die staatliche Sozialpolitik, die er scharf kritisiert. Auf meine Anmerkung, dass der Staat vor allem für Sicherheit sorgen muss, reagiert er empört. Es gibt vieles, was vernachlässigt wird, wie z.B. die Schulen oder die armen und alten Leute. Und immer mit dem gleichen Argument: die Sicherheit. Aus seiner Sicht lässt auch die israelische Demokratie viel zu Wünschen übrig. Die Minderheiten werden diskriminiert…. Wir leben hier und wir leben heute, sagt er. 









Or hat seine eigene Meinung zur Sozialpolitik Israels


Nach dem Essen wollen wir noch in eine Bar und landen in einem im Hinterhof versteckten Club für Lesben. Der Wein ist gut, die Gesellschaft lustig, der DJ sorgt zusätzlich für eine gute Stimmung und es gibt sogar einen Raum für RaucherInnen! Einfach toll! 

Yom HaShoah

Yom HaShoah – Gedenktag für die Opfer der Shoah. Kurz vor 10 Uhr morgens unterbrechen wir unser Seminar und gehen auf die Straße. Punkt 10 Uhr ertönen die Sirenen. Für zwei Minuten erstarrt das ganze Land. Auf der Straße bleiben die Passanten stehen, Autofahrer stoppen die Motoren und steigen aus. In Erinnerung an die 6 Millionen Ermordeten.

Yom HaShoah – für zwei Minuten erstarrt das ganze Land

Yom Ha Shoah ist ein säkularer staatlicher Feiertag, aber - wie die religiösen Feiertage -  beginnt er bereits am Vorabend. Denn für Juden beginnt und endet ein Tag mit dem Sonnenuntergang, wenn die ersten drei Sterne am Himmel erscheinen. Rechtzeitig verlassen wir also das gastfreundliche Haus von Anita Haviv, um nach Massuah am Kibbutz Tel Jizhak zu fahren, wo eine Gedenkfeier stattfinden wird. Massuah (was in Hebräisch „Flamme“ bedeutet) ist eine Holocaust-Gedenkstätte, die ein Institut für Holocauststudien, eine Bildungsstätte sowie ein Museum beherbergt. Das Ziel der Einrichtung ist es, die Erinnerung und den Diskurs über die Bedeutung des Holocaust für die israelische Gesellschaft und Kultur aufrecht zu halten. Seit Beginn seines  Bestehens beteiligten sich ehrenamtlich auch viele Überlebende an der Arbeit des Instituts, was hier sehr geschätzt wird. Es sind meistens die, die mit der Kinder- und Jugend-Alija nach dem Krieg nach Israel kamen. „Alija“ ist ein hebräisches Wort und bedeutet „Aufstieg“. Es bezeichnet die Rückkehr von Juden in das Gelobte Land. Man immigriert nicht hierher, man steigt auf. Die symbolische Bedeutung dieses Wortes entgeht uns nicht. In einem geräumigen Amphitheater neben dem Museum werden Veranstaltungen abgehalten. Dort müssen wir hin.

Massuah Museum - Alija - der Aufstieg
Vor dem Beginn der Feierlichkeiten schaffen wir es gerade noch, uns das Museum anzuschauen. Dr. Eli Bar Chen, der dort als Dozent arbeitet, zeigt uns die Ausstellung, die hauptsächlich den jungen Juden und ihren Schicksalen vor, im und nach dem Krieg gewidmet ist. Ein Teil der Exposition ist besonders dem Prozess gegen Adolf Eichmann von 1961 in Jerusalem gewidmet. Der Prozess war in Israel der Wendepunkt in der Forschung und vor allem in der Bildung zum Thema Holocaust. Erst seitdem wird die Shoah als eines der zentralen Elemente der gesamtjüdischen Geschichte anerkannt.  

Führung mit Dr. Eli Bar Chen

Nach dem Einbruch der Dunkelheit beginnt die Gedenkfeier. Das Amphitheater ist überfüllt. Hauptsächlich junge Menschen, vor allem Soldatinnen und Soldaten unterschiedlicher Formationen, man erkennt auch zahlreiche Schulklassen. Es werden Reden gehalten, ein Gebet für die Verstorbenen gesprochen, Musik gespielt und Gedichte vorgelesen. Jedes Jahr wird das Leitthema gewechselt. Dieses mal sind die Feierlichkeiten Kindern und Jugendlichen in der Shoah gewidmet. Einer der Redner ist der Oberbefehlshaber der israelischen Streitkräfte. Das soll die Bedeutung der Armee für den israelischen Staat und seiner Gesellschaft unterstreichen. Dann werden von Überlebenden die sechs Flammen entzündet: jede für eine Million. Die siebte Flamme, die von dem Politiker Natan Scharanski anschließend gezündet wird, soll die Zukunft des Staates Israel symbolisieren. Für mich eine klare Botschaft: wir sind da, wir sind stark und wir lassen uns nicht unterkriegen. Nie wieder. Uns entgeht zwar die verbale Tragweite, da wir die Sprache nicht verstehen, aber die ganze Symbolik der Veranstaltung ist doch sehr bewegend. Nicht zuletzt wegen unserer eigenen kollektiven Erinnerung.

Gedenkfeier im Amphitheater neben dem Museum

Am Tag des Yom HaShoah fangen wir mit Anitas Hilfe an, den kulturellen „Code der Israelis“ zu knacken. Das brauchen wir, um besser zu verstehen, was in diesem Schmelztiegel vor sich geht. Zwar sagt man, dass man nach Israel mit tausend Fragen kommt und mit fünftausend nach Hause zurückkehrt, doch mit jedem Vortrag und jedem Gespräch bewegen wir uns nach vorne.

Dieses Mal geht es um die jüdische Identität. Juden machen 75% der ganzen Bevölkerung aus. Dazu kommen 20 % Muslime und 5% andere Konfessionen. Einer der wichtigsten Faktoren der jüdischen Identität ist die Religion. Außer den säkularen gibt es reformierte, orthodoxe und ultraorthodoxe Juden. Anita erklärt uns die Unterschiede und zeigt, was wir anhand der Kopfbedeckungen erraten können.

Anita selbst ist eine nicht religiöse Jüdin, die mit 18 Jahren nach Israel kam. Da sie am Anfang große Probleme hatte, sich in Hebräisch auszudrücken, studierte sie englische und französische Literatur. Da ihre Eltern Überlebende der Shoah sind, hat es natürlich ihr Leben sehr geprägt, sagt sie.

Mit Anitas Hilfe den den kulturellen „Code der Israelis“ knacken

Dann stellt sie uns zwei junge Frauen vor: Talia Hollaender und Rachel Melisse. Beide sind Jüdinnen und Israelinnen, aber ich habe den Eindruck, dass das vielleicht das Einzige ist, was die beiden verbindet. Die in einer Siedlung in den Autonomiegebieten lebende 22 jährige Talia ist sehr religiös und schon verheiratet – daher ihre Kopfbedeckung, die sie selbst „die Schmatte“ nennt. Die Studentin der Kommunikationswissenschaften hat eine religiöse Schule absolviert, in der der Holocaust kein großes Thema war. Doch die Shoah ist in ihrer Familie präsent – ihr Großvater ist ein Überlebender.

Talia Hollaender
Die um etwa zehn Jahre ältere Sozialarbeiterin Rachel Melisse dagegen hat mit 16 Jahren 1992 eine Alija aus Äthiopien nach Israel gemacht. Für sie war das neue Leben als Israelin alles andere als einfach. Für sie war es ein mühsamer Prozess, sich als eine Israelin zu fühlen. Als Farbige hatte sie sich zusätzlich ausgegrenzt gefühlt. Die Shoah ist für sie etwas anderes als für Talia und emotional fühlt sie sich mehr mit den Gedenktagen der äthiopischen Juden verbunden. Und sie setzt sich dafür ein, mehr Aufmerksamkeit für ihre Bevölkerungsgruppe in der israelischen Öffentlichkeit zu erreichen.

Rachel Melisse

Später am Nachmittag treffen wir Lizzie Doron und Etgar Keret. Beide sind bekannte Schriftsteller, beide gehören der sogenannten zweiten Generation an, wie die Kinder der Überlebenden des Holocaust bezeichnet werden. Doch auch sie unterscheiden sich grundsätzlich voneinander. Während die Kindheit von Lizzie vom Trauma ihrer alleinstehenden Mutter gekennzeichnet war, ist Etgar in einer harmonischen und von Optimismus geprägten Familie aufgewachsen. Das spiegelt sich auch in ihrem Schreiben wider: während Lizzie sich mit der  Familiengeschichte in ihren Büchern auseinandersetzt, schreibt Etgar, der als ein enfant terrible der israelischen Literatur gilt, unkonventionelle kurze Erzählungen, in der sich Tragik mit Komik auf eine wunderbare Weise vermischen.

Etgar Keret
Lizzie Doron

Ich glaube, alle haben diesen ersten Einblick in das Leben und in die sehr ungezwungen erzählten persönlichen Geschichten sehr geschätzt. Ich auf jeden Fall tat es.

Fotos: Anna Maria Adamczyk, Elke Meyer-Hoos, Katarzyna Weintraub