Freitag, 11. Februar 2011

Bolivianisches Tagebuch (Teil 2):
Die Kinder von Potosí

(Thüringer Allgemeine vom 05.02.2011)
 

Von Paul-Josef Raue

In Sucre, der Hauptstadt Boliviens, leben die Leute, die mit dem Silber von Potosí zu Reichtum kamen. Im stolzem Präsidenten-Palast entstand der erste Teil des Bolivianischen Tagebuchs mit dem Gouverneur, der noch vor einem Jahr als Bauer über die Dorfstraße ging. Von Sucre aus windet sich eine Straße nach Potosí ins Silberbergwerk. Hier liegt der Reichtum des armen Anden-Staates.

Potosí. Am Eingang zu Hölle spielen drei Kinder, vielleicht acht, neun Jahre alt. Sie spielen auf einem grauen Platz, gerade mal fünf Meter im Quadrat, sie haben Rechtecke in den Staub geritzt, hüpfen um die Wette und tragen einen breitkrempigen Hut, der sie vor der Sonne schützt.

Neben ihrem Spielplatz hat brackiges Wasser eine schmale braune Rinne in den Stein gefräst, vor dem Hüpfkasten steht eine herrenlose Schubkarre, mit der die Steine und der Schutt weggeschafft werden, der sich nebenan türmt. Ein Hund döst auf den Steinen und schaut auf das Tal mit seinen Hütten und kleinen Häusern, auf Wellblech, Lehmziegel, ein Dutzend Bäume und ein paar Kneipen. Alles ist grau, grauer oder braun, nur ein Hauch von Grün, ein rotes Stück Wäsche auf einer Leine, unter der Arbeiter Schubkarren wuchten, sonst nichts Buntes, die Natur ist zu Stein erstarrt, zu Staub zerbröselt.

Es ist kalt, alles ist kalt. Der Spielplatz liegt in dünner Luft, rund 4200 Meter hoch am Hang eines Berges mit abgerundeter Kuppe. Die Einheimischen in ihrer Ketschua-Sprache nennen ihn den Heiligen Berg. Das hört sich an wie ein Scherz, es dürfte kaum einen unheiligeren Ort geben, an dem sich Menschen freiwillig aufhalten. Potosí, Weltkulturerbe in Bolivien, ist das Tor zur Hölle.

Millionen Arbeiter sollen im Bergwerk umgekommen sein

Doch diese Hölle in den Anden, im ehemaligen Reich der Inkas, macht wohlhabend in einem Land, wo für die Armen sonst nichts vorgesehen ist. In dieser Hölle liegt Silber, so viel Silber, dass die spanischen Eroberer blind vor Gier wurden. Eine Brücke aus Silber könnte man von Potosí nach Madrid bauen, prahlten die Kolonialherren. Rund 50.000 Tonnen Silber sollen in knapp fünfhundert Jahren aus dem Berg gefördert worden sein, noch doppelt so viel soll der Berg verbergen.

Man könnte auch eine Brücke aus den Knochen der Arbeiter bauen, erwiderten die Einheimischen, die Sklaven der Herren aus Europa. Zehn Millionen sollen in den Jahrhunderten der Kolonisation hier umgekommen sein, erschlagen im Stein oder erfroren in der eisigen Luft oder verzehrt von der Arbeit oder vergiftet vom Quecksilber, mit dem das Silber vom Stein getrennt wird.

Als die spanischen Eroberer vertrieben waren und Bolivien eine Republik wurde, ging es den Arbeitern noch schlechter. Die Spanier hatten ihnen wenigstens noch ihr Eigentum gelassen, die neuen Herren, die Großgrundbesitzer, nahmen ihnen alles. Das war vor gut hundert Jahren.

Vor dreißig Jahren verwandelte sich die höchstgelegene Großstadt der Welt in eine Geisterstadt. Die Silber-Preise sanken von einem Rekord-Tief zum anderen, die privaten Minenbetreiber gaben ebenso auf wie die aufgeblähten staatlichen Gesellschaften. Zudem ließ die linke Regierung das Geld in einem wahnsinnigen Tempo verfallen: Inflation von unvorstellbaren 26 000 Prozent.

Die nächste, eine neoliberale Regierung gab den Arbeitern wenigstens eine hohe Abfindung, damit sie die Hölle Potosí verlassen konnten. Die meisten kauften sich in den tieferen und heißen Lagen der Anden eine Koka-Plantage, sie wurden reich durch das Kokain in den grünen Blättern, sie ernteten mehrmals im Jahr und schlossen sich zu Genossenschaften zusammen.

Als der Silberpreis wieder stieg, kamen einige zurück und griffen auf den Erfolg der Genossenschaften, der Cooperativa, zurück. Heute beuten sich die Arbeiter selber aus, sparen an der Sicherheit um den Preis ihrer Gesundheit, kümmern sich nicht um Vorsorge für das Alter und die schlechten Tage. Sie schaffen eine Dreiklassengesellschaft aus eigenem Antrieb.

Zehn Prozent des Gewinns erhält die Genossenschaft

Oben stehen die Chefs, unter ihnen die Arbeiter, die auf eigenes Risiko in den Berg gehen, bis zu 250 Euro in der Woche verdienen oder auch gar nichts und rund zehn Prozent des Gewinns an die Genossenschaft zahlen. Am Ende der Skala stehen die Assistenten. Sie sind zuständig für die schwerste Drecks-arbeit, sie bekommen einen schmalen, aber festen Lohn.

Gut ein Dutzend Arbeiter verunglückt tödlich in jedem Jahr, einige werden in den Explosionen von Steinen erschlagen, andere stolpern betrunken in den Tod. Wer sich verletzt, wer krank wird, muss gehen. Arbeit ist nur für die Starken da.

Wir gehen in einen der zahllosen Stollen, die in den Berg gesprengt wurden. Das Dynamit kann man problemlos in einem der Geschäfte an der Straße zur Mine kaufen, es steht neben Gummistiefeln und den Lampen, die auf den Helm gesetzt werden. Nirgends dürfte man so leicht und preiswert an Sprengstoff gelangen.

Zwei, drei Kilometer lang durchziehen schmale Schienen die engen, glitschigen Stollen, die wie die Adern einer Hand den Berg durchziehen. Mit Loren wird der Stein ans Tageslicht gebracht. Zwischen den Wänden, an denen das Wasser im Lampenlicht glitzert, und den schwankenden Loren ist kaum genügend Raum, um sich in Sicherheit zu bringen, wenn Arbeiter laut rufend die Wagen durch den Berg schieben.

Die Arbeiter haben alle eine dicke rechte Wange. Es war und es ist eine brutale Arbeit, nur mit Drogen zu ertragen. Ein Dutzend Koka-Blätter, frei auf dem Markt von Potosí zu kaufen, liegt in der Wangentasche, der Speichel verwandelt die Blätter in die berauschende und betörende Droge, mit der man Berge ausbeuten kann. Zwei Stunden dauert die Wirkung an, die Zeitspanne nennen sie Coqueda. Es ist ein Zeitmaß geworden.

Die Spanier wollten die Droge verbieten, ein Konzil vor 450 Jahren nannte sie: Werk des Teufels. Doch das Silber war den Spaniern wichtiger als der Spruch der Kirche. Sie entdeckten, dass die Droge die Menschen arbeiten ließ bis zum Zusammenbruch.

Die Spanier sind geflohen, das Koka blieb. Von neun am Morgen bis um fünf am Abend schuften sie im Berg. Der älteste Arbeiter ist 65. "Er ist langsam ein wenig müde", sagen sie. Der jüngste heißt Walter und ist 15, so sagt er wenigstens. Sein Gesicht verrät, dass er viel jünger ist.

Bierdosen und Luftballons für die Teufel

Walter hat noch nicht die klobigen Hände mit den dicken Fingern. Er verlegt Leitungen in den Ecken, die sonst keiner mehr erreicht. Er ist fröhlich in der Welt der Erwachsenen, die ihn respektieren. Überall arbeiten Kinder in den Minen, die Männer erzählen davon, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Aber eigentlich, so fügen sie leise hinzu, wollen sie nicht, dass ihre Kinder Mineros werden, sie wollen sie lieber zum Studium schicken.

Am Ende des Stollens leuchtet ein Licht, das einen Altar erhellt: Eine blutrote Fratze, zum Karneval geschmückt mit Luftschlangen, Girlanden und grünen Luftballons; ein riesiger Penis; Bierdosen, Zigarettenschachteln und die kleinen Plastikflaschen mit gut 90-prozentigem Alkohol, den die Coqueros, die Koka-Kauer trinken, wenn die Wirkung der Blätter in der dicken Wange nachlässt.

Die Fratze schmückt jeden Stollen, es ist Ttio, der Teufel, umgeben von lokalen Teufels-Fratzen, denen die Arbeiter einen Namen geben, christliche Namen, so genau nimmt man es nicht. Im Berg endet die Macht der Kirche. "Oberhalb sind wir Christen", sagt Fredy, "unten sind die Teufel - und die müssen wir milde stimmen. Am Sonntag arbeiten wir nicht, dann gehen wir alle in die Kirche." Er macht keine Scherze.

Bolivianisches Tagebuch (Teil 3):
Plan tres mil

(Thüringer Allgemeine vom 10.02.2011)

Von Paul-Josef Raue

In der bolivianischen Stadt Santa Cruz kümmert sich ein ehemaliger spanischer Bischof nicht nur um das Seelenheil der Bevölkerung, sondern auch um deren Bildung und damit um deren Zukunft. 

Die Kinder betteln. "Wir haben Hunger." Sie umarmen Nicolas. Er gibt ihnen Geld, sie kaufen Brot, nichts Süßes. Die Kinder und Nicolas leben im Elendsviertel am Rande von Santa Cruz, der mit anderthalb Millionen Einwohnern größten Stadt Boliviens.

Nicolas ist 75 Jahre alt, er kommt aus Spanien, aus dem Land, das Bolivien und seine Menschen über fast drei Jahrhunderte ausgebeutet hatte. Nicolas Castellanos Franco, so sein voller Name, ist gekommen, um zu helfen - "nicht den Armen, sondern mit den Armen". Brücken will er bauen - "vom Rande der Gesellschaft ins Zentrum, nicht umgekehrt".

Eigentlich ist Hilfe nicht notwendig, denn Not und Hunger müssten nicht herrschen im an Rohstoffen und Früchten so reichen Bolivien. "Wenn man den Reichtum Boliviens gleich verteilen würde, gäbe es keine Armut mehr", ist auch Nicolaus überzeugt.

Das Elendsviertel ist eine eigene Stadt mit Vize-Bürgermeister, 104 Stadtteilen und einem Kanal, in dem die Abwässer fließen. "Plan tres mil" heißt die Stadt der Armen, Plan 3000 - so genannt, weil 3000 Menschen nach einer Überschwemmung des nahen Flusses obdachlos und umgesiedelt wurden. Heute leben hier hundert Mal so viele.

Die Stadt der Armen ist mehr als eine Ansiedlung von Wellblech-Hütten, sie ist voller Leben. Entlang der asphaltierten Hauptstraße, der einzig befestigten Straße, reihen sich Internet-Cafés, Motels und Restaurants, Tankstellen, Schneider und Auto-Werkstätten, Friseure und ein koreanischer Missions-Kindergarten, eine Karaoke-Bar und das Café-Che-Guevara, ein Kickbox-Studio, Bolzplätze und schöne Häuser, von Mauern umgeben, in deren Kronen Glasscherben stecken.

Zwei Drittel der Menschen in "Plan 3000" sind arm, erläutert Nicolas, ein Drittel lebt im Elend. Und Elend heißt: Hunger, Unterdrückung, Gewalt. Nur wo Nicolas lebt, am Rande des Elends, ist es schön, selbst nach europäischem Maßstab: Große Steinhäuser, gepflegte Parks, von Licht geflutete Räume, ein Theater, ein Krankenhaus, eine Universität, an der 500 junge Leute mit einem Stipendium studieren können, und ein riesiges Schwimmbad, in das an heißen Sonntagen einige Tausend kommen gegen geringen Eintritt.

Auch die Armen, nicht nur die Reichen, haben ein Recht auf Schönheit, sagt Nicolas und zitiert Dostojewski: "Nur die Schönheit rettet die Welt!"

Nicolas predigte dreizehn Jahre lang als Bischof im spanischen Palencia, bevor er dem Papst aus Polen seinen Abschied einreichte. "Ich wollte nicht nur predigen, sondern das tun, was ich in meinen Predigten forderte: Als Jünger Jesu für die Armen da zu sein."

So flog er vor zwanzig Jahren aus einem katholischen Land, dem Land der ehemaligen Unterdrücker, in ein anderes katholisches Land, dem Land der Unterdrückten, das in seinen Strukturen immer noch an den Folgen leidet, dessen Seele immer noch kolonialisiert ist.

Ob er seinen Abschied von Europa bereut? Er schüttelt den Kopf, und es ist nicht einmal ein Anflug von Ironie in seiner Stimme, wenn er sagt: "Ihr habt im Norden dieser Welt alles, was ihr zum Leben braucht. Aber euch fehlt der Grund, warum ihr lebt. Hier in Südamerika gibt es diesen Grund, aber es fehlt alles, was die Menschen zum Leben brauchen." Nicolas erzählt von der großen Solidarität der Armen, von ihren wunderbaren Festen und Feiern.

"In Bolivien kann man mit wenig Geld viel erreichen", weiß Nicolas. Er sammelt Spenden in Spanien, baute hundert Schulen und sechs Kulturhäuser überall im Land, unterhält die Universität. "Ein Land ohne Erziehung und Bildung kommt nie aus der Armut heraus."

Wir gehen zum Vize-Bürgermeister und einigen Politikern. Nicolas kommt nicht mit. Er hatte für die alten Regierungen nichts übrig, für die neue, die Indio-Regierung auch nicht, weil sie mehr Korruption und Drogenhandel zulasse als je zuvor. Aber "die Kirche hält sich aus der aktuellen Politik heraus, das ist richtig so; wir sind die Kirche mit den Armen, das ist unsere Glaubwürdigkeit, eine größere gibt es nicht."

Im hellen Raum des Gemeindezentrums sitzen die Funktionäre der Armut, ein Komitee aus Menschen, die bis zum Wahlsieg des Indio-Präsidenten Evo Morales nichts zu sagen hatten. Ihre Partei, die MAS, ist keine Partei im deutschen Sinne mit Vorsitzendem, Parteitagen und endlosen Debatten. Die Partei der Indios ist wie diese Versammlung: eine Mischung aus Funktionären, die der Wahlsieg ins Amt gebracht hat, Nachbarschafts-Gruppen, Gewerkschaften, Frauen-Gruppen, Kleinhändler-Vereinigung und sozialen Initiativen.

Die Versammlung ist auch wie ein Spiegel des armen Boliviens, die Menschen kommen aus allen Regionen, Kulturen und ethnischen Gruppen. Hier kann man zuschauen, wie politisches Bewusstsein entsteht. Sie haben in "Plan tres mil" Wahlkampf geführt für Evo Morales, sie gehörten zu seiner Partei, einfach indem sie sagten: Ich gehöre dazu - ohne Parteibuch und Mitgliedsbeitrag. Sie holten 54 Prozent der Stimmen, jetzt haben sie das Sagen, aber kaum Geld.

Sie sprechen über die Zukunft, sie sprechen hart und applaudieren sich gegenseitig. Eduardo, der Vize-Bürgermeister, lobt Evo Morales, Boliviens Präsidenten, der gerade einen Aufruhr vereiteln konnte.

Vor Weihnachten verdoppelte der Präsident die Benzinpreise und nahm dies, als das Volk buchstäblich auf die Barrikaden ging, nach Weihnachten wieder zurück. Eduardo nimmt den Präsidenten in Schutz: "Wir haben schlechte Minister, die nicht auf das Volk hören, aber wir haben einen guten Präsidenten, der weiß, wie das Volk denkt." So einfach ist das.

Der lokale Präsident der MAS-Partei spricht erst leise, sodass sein Name untergeht, dann aber kämpferisch und laut: "Wir sind gegen den Profit der Kapitalisten, wir werden alles anders machen."

Jose, der Zimmermann, trägt ein Calvin-Klein-Hemd, das wohl nach einer Altkleider-Sammlung aus Deutschland nach Bolivien kam. Er möchte die deutschen Gästen am liebsten umarmen: "Wir danken für die Unterstützung im Kampf, der auch ein internationaler ist. Wir haben eine bedeutende historische Gelegenheit, wir müssen sie nutzen." Alle freuen sich und klatschen.

Juan ist Vertreter der Kleinst-Unternehmer, er ist Schreiner: "Wir sind gegen den Export von gutem Holz. Wir sind gegen die Kapitalisten, die allein das gute Holz bekommen. Wir wollen bessere Geschäfte machen."

Die Reise organisierte die Bundeszentrale für politische Bildung, die in ihrem Projekt "America Latina 200" an die Befreiung Südamerikas von der Kolonialherrschaft erinnert.