Mittwoch, 2. Februar 2011

Bolivianisches Tagebuch (Teil 1):
Der Bauer als Präsident

(Thüringer Allgemeine vom 29.01.2011)

Von Paul-Josef Raue


Hat der Sozialismus, staatlich organisiert, noch eine Chance? Vor zwanzig Jahren dachte keiner an eine Auferstehung des organisierten Kommunismus. Doch in Südamerika dreht sich der Wind. In demokratischen Wahlen kommen Regierungen an die Macht, die sich ihre Ideale von Karl Marx borgen.

Der Präsident trägt einen Hut, wenn er den Konferenzraum betritt, in dem einst die Kolonialherren ihre Untertanen empfingen. Er trägt einen schwarzen Hut, der vor der Hitze schützt, einen Sombrero, den Hut der spanischen Kolonialherren. Den Hut tragen heute die armen Leute im Hochland Boliviens.

Der Präsident kommt ohne Strümpfe, seine Füße stecken in Sandalen, in denen er als Bauer über die Dorfstraße gegangen ist. Er hat ein buntes grobes Baumwollhemd angezogen, so wie es ein armer Bauer trägt. Der Präsident ist Esteban Urquizu Cuellar, er hat nur fünf Jahre die Schule besucht, so sagt er. Heute ist er Chef in der Hauptstadt Boliviens, in Sucre, einer stolzen Stadt mit schönen Häusern, die es nicht verwunden hat, dass sich die Mächtigen des Landes La Paz zum Regierungssitz erkoren haben. Esteban ist Gouverneur von Chuquisaca, der Ministerpräsident der ärmsten Provinz im ärmsten Land Südamerikas. Auf einem Sofa in seinem Vorzimmer sitzen Bauern aus dem Hochland, die früher den Palast allenfalls aus der Entfernung ansehen durften. Esteban hört sie an, er wird ihnen helfen, so es in seiner Macht steht, sagt er. Er ist einer von ihnen, das sieht man, er hat die Macht, die absolute Macht. Seine Partei verfügt über die Zweidrittelmehrheit im Provinz-Parlament, seine Partei stellt die meisten der 25 Bürgermeister, die - wie er - Gewerkschafts- Führer waren.

Er zeigt den Stolz. Erstmals in der Geschichte Boliviens haben die Indianer und Bauern die lokale Macht genommen, die regionale und die nationale Macht. In unserer neuen Verfassung steht: Jeder Politiker und jeder Beamte muss zwei unserer Sprachen sprechen. Ich spreche Ketschua und Spanisch.

36 offizielle Sprachen, also Sprachen der Ureinwohner, kennt die Verfassung, mindestens eine von ihnen muss sprechen, wer gewählt werden will. Die Zweisprachigkeit der Mächtigen, die Beherrschung einer der alten Sprachen, der Sprache der Unterdrückten, soll ein Zeichen sein, dass sich die Zeiten geändert haben. Die Indios, die seit Jahrhunderten unterdrückt wurden, haben das Sagen, buchstäblich. Das ist die bolivianische Spielart des Sozialismus, zu der zwei Quotenregelungen gehören: Die Indios bedienen die Hebel der Macht - und zur Hälfte die Frauen der Indios.

Überall in den Parlamenten und Regierungen muss die Hälfte der Macht weiblich sein. Doch das ist kaum per Dekret zu verwirklichen in einer Gesellschaft, die männlich ist wie kaum eine andere, in der ein Mann ein Macho ist, so erzogen, so selbstbewusst. Meist bleibt die männliche Mehrheit, denn die Parlamente in den Dörfern haben fünf Sitze. Esteban, der Provinz-Präsident, ist 29 Jahre jung, und er ist stolz, jung zu sein. Die Älteren haben nur die Erfahrung, wie man stiehlt. Er hat nie einen Beruf gelernt, nie studiert. Wir hatten kein Geld in unserer Familie, erzählt er, ich bin intelligent, aber habe nie gedacht, dass ich Präsident werden könnte.

Der Anführer seiner Partei, der Präsident Boliviens, hat es ihm auch nicht zugetraut. Mit dir gewinnen wir hier nicht, mit dir gewinnen wir diese Provinz niemals, hat er ihm zugerufen und erst in letzter Minute akzeptiert, dass er kandidieren darf.

Esteban gewann mit 53 Prozent und folgte einer Frau nach, die die Schwester seiner Mutter ist, allerdings im anderen politischen Lager. Nun befiehlt Esteban seit sieben Monaten die Polizisten, die ihn einst, den Bauern und Gewerkschafter, gesucht und verfolgt hatten. Er führt eine Verwaltung, von der er keine Ahnung hat. Ich bin ein Bauer, sagt er, aber es ist nicht unmöglich. Wir müssen fünfhundert Jahre aufholen. Aber wir Indios sind die Reserven, wir haben noch Kraft und Visionen. Wir wollen regieren, ohne zu stehlen.

Gestohlen haben die Mächtigen vor ihm, so sieht er es - und nicht nur gestohlen, sondern auch erniedrigt und beleidigt. So heißt der Dokumentarfilm eines berühmten Argentiniers, der vor zwei Jahren in Sucre gedreht wurde. Es ist ein Film, der das Fürchten lehrt. Campesinos, die Ärmsten der Armen, werden von den Städtern durch Sucre geprügelt und mit dem Tode bedroht. Die Menschen vom Lande werden gezwungen, auf die Knie zu fallen und die Fahne der Herr-schenden zu küssen. Die weißen Bürger schauen zu, das Militär zieht sich ebenso zurück wie die Polizei. Es herrscht Lynchjustiz der wohlhabenden Bürger, darunter Professoren der Universität.

Verschwörungstheorien kommen schnell in Umlauf. Bestellte Schlägerbanden sollen den Aufruhr angezettelt haben. Bolivien ist ein Land, das mehr Verschwörungen nennt als Wahrheiten. Die Bürger, die vor zwei Jahren die Ärmsten durch die Stadt jagten, sind heute die Opposition. Sie haben immer weniger zu sagen. Die wenigen Gouverneure und Bürgermeister aus der Opposition, die gewählt wurden, verlieren nach und nach ihr Amt und werden ersetzt durch regierungstreue Nachfolger. Möglich macht es ein Gesetz, nach dem ein Gewählter sein Amt schon abgeben muss, wenn der Staatsanwalt gegen ihn ermittelt - also lange bevor ein Richter entscheidet. Der Staatsanwalt ist im Griff der Regierung.

Die Indios sind nach allen Regeln der demokratischen Kultur an die Macht gekommen, ohne Manipulation, in der zweiten nationalen Wahl sogar mit einer Zweitdrittelmehrheit, mit der sie alles verändern können - und auch verändern wollen.

Auch der Präsident von Sucre ist vom Volk gewählt. Mit viel Angst habe er sein Amt angetreten, erzählt er und knackt mit den Gelenken seiner Finger. Es war wie eine Prüfung, vor der man fragt: Und wenn ich sitzenbleibe? Er wusste auch nicht, was mit all dem Geld anzufangen sei, das er zu verteilen hatte. Er gab bis Ende des vergangenen Jahres nur drei Viertel des Etats aus.

Aber selbst wenn er seinen Etat ausschöpft, wird er kaum investieren können. Das weite Land ist elend arm, wohlhabend ist nur die Hauptstadt, in der er residiert und in der so viele Einwohner wie in Erfurt leben, eine hübsche Stadt, Weltkultur-Erbe wegen der gut erhaltenen Kolonialbauten mit der ehemaligen Jesuiten-Universität und ihren Kreuzgängen und dem achteckigen Brunnen oder dem Zedernholz-Altar in der barocken Kathedrale.

Die Bürger von Sucre, die Kaufleute und Beamten, haben ihn, den Bauern aus dem Hochland, nicht gewählt. Also will er vor allem die bedenken, die jahrhundertelang nicht an der Reihe waren. Er will den kleinen Leuten, den Bauern und Mini-Händlern, Versicherungen schenken, er will in die Köpfe der jungen Leute investieren, die Bildung verbessern und mehr Ärzte und Medikamente in die Dörfer schicken. Die Ärzte kommen aus Kuba.

Vor allem müsste er Wasser schicken, denn der Regen bleibt aus, die Felder vertrocknen. Der Klimawandel ist gegen uns, klagt er.

Als erste Amtshandlung hat er sein Gehalt gekürzt. Die Präsidenten vor ihm bekamen 20000 Bolivianos im Monat, er nimmt nur 12000, das sind umgerechnet rund 1200 Euro. Das ist dennoch das 15-Fache von dem, was ein Bolivianer im Durchschnitt zum Leben hat.

Neben ihm liegt ein Blackberry, das Markenzeichen eines modernen Managers, mit dem er ständig seine elektronische Post lesen und seinen Kalender führen kann. Esteban liest nicht. Sein Sekretär reicht ihm einen Zettel, er nickt. Eine Abordnung der Coca-Bauern wartet auf ihn.

Die Reise organisierte die Bundeszentrale für politische Bildung, die zurzeit den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf Südamerika legt, anlässlich von America Latina 200, der Erinnerung an die Befreiung von der Kolonialherrschaft vor rund 200 Jahren.