Samstag, 7. Mai 2011

Ramallah - 07.05.

Heute früh holt uns Suleiman Abu-Dayyeh vom Hotel ab, um uns den ganzen Tag in Ramallah zu begleiten. Suleiman ist ein Sozialwissenschaftler, der sein Studium in Bochum und Bonn absolviert hat. Seit 1994 leitet er die Palästinaabteilung bei der Friedrich-Naumann-Stiftung in Jerusalem.


Suleiman Abu-Dayyeh

Wir kriegen einen anderen Bus, denn Moti, unser Busfahrer, darf als jüdischer Israeli die Grenze zu palästinensischem Gebiet nicht passieren. Auch umgekehrt: um die Grenze von Ramallah nach Israel durchqueren zu dürfen, brauchen Palästinenser eine Sondererlaubnis, die von den israelischen Behörden ausgestellt werden muss. Seit der zweiten Intifada hat sich die Situation zusätzlich verschlechtert, und die Kontrollen wurden verstärkt, so dass es am Grenzübergang zu ständigen Staus kommt.

Zunächst fahren wir durch Ost-Jerusalem, ein umstrittener Stadtteil, bewohnt, wie Suleiman berichtet, von 180.000 Juden und 240.000 Palästinensern. Dass in den letzten Jahren die Anzahl der jüdischen Bevölkerung stark gestiegen ist, wird von den Palästinensern mit Sorge beobachtet: sie haben immer noch die Hoffnung, dass diese, im Sechs-Tage-Krieg von Israel eroberte, Stadt eines Tages ihnen gehören wird.

Wir nähern uns dem Calandia Checkpoint – dem größten Grenzübergang auf dem Weg nach Ramallah – die Hauptstadt der Autonomiegebiete. Noch vor dem Posten erhebt sich auf einer Seite eine Mauer, die Palästinenser von…. Palästinensern trennt. Und für Israelis Anschläge verhindern soll. „Das ist eine politische Mauer. Alles, was hier passiert ist politisch“, erklärt Suleiman. Wir passieren den Checkpoint ohne Kontrolle – die gelben israelischen Kennzeichen bewirken Wunder!

In Ramallah fahren wir direkt zur Zentrale des Palästinensischen Roten Halbmondes, was unserem Roten Kreuz entspricht. Dort wird der Seminartag stattfinden.

Rammallah im Zentrum


Die Vorträge sind sehr aufschlussreich. Prof. Khali Shikaki, Direktor des Palestinian Center for Policy and Survey Research erzählt uns von den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den Autonomiegebieten. Das Institut erhebt seit Jahren Umfragen zu diesen Themen.
Die größte Tragödie liegt aus seiner Sicht darin, dass 1948 die Palästinenser nicht nur ihre Häuser und ihre Heimat, sondern auch ihre nationale Identität verloren haben. Um sie wiederzugewinnen fordern sie das Rückkehrrecht und die Rückgabe ihres Besitzes, die Rückkehr zu den Grenzen vor 1967, einen souveränen Staat, Ost-Jerusalem als Hauptstadt und Kontrolle über die heiligen Plätze in Jerusalem. Gleichzeitig belegen die Umfragen, dass die meisten Beteiligten in vielen Punkten kompromissbereit sind. Bis auf das Rückkehrrecht, die Anerkennung des Besitzes und die Souveränität der Heiligen Plätze. Deshalb ist gerade in diesen Punkten ein Kompromiss besonders schwierig zu finden. Mittlerweile hat man hier aufgehört, an die Diplomatie zu glauben und fordert eine Resolution des Sicherheitsrates, in der Israel aufgefordert wird, Palästina als souveränen Staat anzuerkennen. Das wurde vor allem von jungen Menschen forciert, die sich schon jetzt auf eine gewaltlose Protestwelle wie Streiks oder Checkpoint-Blockaden vorbereiten, erläutert uns Shikaki. Bald wird es in den Autonomiegebieten eine neue Regierung geben. Mal sehen, was dann passiert. 

Calandia Checkpoint

Professor Mohamoud Yazbak ist Historiker an der Universität Haifa und beschäftigt sich mit den Vertreibungstraumata der palästinensischen Flüchtlinge des Jahres 1948. Er hat an der Uni Haifa ein israelisch-palästinensiches Projekt durchgeführt, das sich anhand von Archivfotos mit der Gedenkkultur auf beiden Seiten konzentriert. Vor allem wollte er wissen, wie sich die junge Generation der Juden und der Palästinenser an die Vertreibung erinnert. Es stellte sich heraus, dass die jungen Palästinenser durch familiäre Tradierung ein sehr klares Bild des Geschehens hatten, während die jüdischen Studenten oft die präsentierten Bilder nicht einordnen konnten. In Israel leben heute 300.000 Palästinenser, die Prof. Yazbak „internal refugees – innere Flüchtlinge“ nennt. Sie sind aus ihren Dörfern vertrieben worden und leben meistens in der Nähe ihrer alten Familienhäuser. Die Erinnerung an Nakba – Katastrophe – ist in diesen Familien immer noch sehr lebendig. Palästinenser – auch arabische Israelis – erinnern sich an diesen Tag der "Nakba". Am 23. März 2011 verabschiedete die Knesset das sogenannte "Nakba-Gesetz", das Institutionen, die "die Fundamente des Staats und seine Werte" untergraben, von der Finanzierung durch öffentliche Gelder ausschließt. So kommt es vor, dass aus Protest in den arabischen Schulen manchmal verweigert wird, über den Holocaust zu Unterrichten. Auf lange Sicht wird diese Politik Israels dem Staat nicht dienen, meint Yazbak.

Neue Häuser in Ramallah

Nach dem Mittagsessen machen wir einen Spaziergang durch die Stadt. Im Zentrum wimmelt es von Menschen. Man sieht vor allem viele junge Frauen mit tuchbedeckten Köpfen, aber einige auch ohne Kopftuch. Überall wird viel gebaut. Ramallah boomt, erklärt uns Suleiman. Auf dem Hauptplatz der Stadt stauen sich die Autos, auf dem Bürgersteig stehen Frauen und Männer, die die Freilassung ihrer Familienangehörigen aus der israelischen Gefangenschaft fordern. Überall hängen Plakate, die an den sich nähernden 63. Jahrestag der Nakba am 15. Mai erinnern. Es ist der Tag, an dem der Staat Israel proklamiert wurde. Für Palästinenser ein nationaler Trauertag.

Forderung nach Freilassung Familienangehöriger am Straßenrand

Wir machen eine Schleife um das Zentrum und kehren zurück zu unserem Seminarraum. Dort treffen wir Dr. Sameech Hamoudeh, Politikwissenschaftler und Anthropologe, Gründer des Ramallah Stadtarchivs. Er referiert über über Erinnerungen und Verarbeitungsmuster bei Flüchtlingen der Jahre von 1948 bis 1967. Er vertritt die Meinung, dass eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts nicht politischer, sondern kultureller Natur sei. Zwei separate Staaten seien keine Lösung, denn irgendwann würden sie wieder gegeneinander kämpfen. Bisher befürworteten alle Projekte eine Separierung der Menschen, statt sie zusammenzuführen. Doch Menschen müssen die Koexistenz praktizieren, um zusammen leben zu können, sagt er. Es ist nicht einfach, gibt er zu, doch auch nicht unmöglich. 

Manal Alkhalde und Muhannad Azzeh
 
Zum Schluss begegnen wir zwei jungen Menschen: Manal Alkhalde und Muhannad Azzeh. Beide sind in Flüchtlingslagern geboren. Manal, gelernte Designerin, arbeitet als Lehrerin in einer UN-Schule im Flüchtlingslager Aljalazon. Muhannad studierte in der Kunsthochschule und beschäftigt sich mit der oral history der Flüchtlinge. Sie erzählen uns von ihren Familien und von dem Leben im Lager, von der Enge und dem Mangel an Privatsphäre, aber auch vom Gefühl der Zugehörigkeit, Vertrautheit und Gemeinsamkeit. Sie sind fest entschlossen, die Erinnerung an die Familiengeschichte aufrecht zu erhalten und sie an ihre Kinder weiterzugeben. Manal möchte sie mal zu dem Ort führen, wo ihre Großeltern herkamen. Muhannad zieht aus der Hosentasche seinen Schlüsselbund, an dem eine Kopie des Hausschlüssels hängt, den seine Oma auf die Flucht mitgenommen hatte. Er trägt den Schlüssel zu einem Haus, das es nicht mehr gibt…

Gegen Abend fahren wir zurück nach Jerusalem. Confused.

Rammalah zur Rush Hour


Fotos: Anna Maria Adamczyk, Katarzyna Weintraub

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