Freitag, 11. Februar 2011

Bolivianisches Tagebuch (Teil 3):
Plan tres mil

(Thüringer Allgemeine vom 10.02.2011)

Von Paul-Josef Raue

In der bolivianischen Stadt Santa Cruz kümmert sich ein ehemaliger spanischer Bischof nicht nur um das Seelenheil der Bevölkerung, sondern auch um deren Bildung und damit um deren Zukunft. 

Die Kinder betteln. "Wir haben Hunger." Sie umarmen Nicolas. Er gibt ihnen Geld, sie kaufen Brot, nichts Süßes. Die Kinder und Nicolas leben im Elendsviertel am Rande von Santa Cruz, der mit anderthalb Millionen Einwohnern größten Stadt Boliviens.

Nicolas ist 75 Jahre alt, er kommt aus Spanien, aus dem Land, das Bolivien und seine Menschen über fast drei Jahrhunderte ausgebeutet hatte. Nicolas Castellanos Franco, so sein voller Name, ist gekommen, um zu helfen - "nicht den Armen, sondern mit den Armen". Brücken will er bauen - "vom Rande der Gesellschaft ins Zentrum, nicht umgekehrt".

Eigentlich ist Hilfe nicht notwendig, denn Not und Hunger müssten nicht herrschen im an Rohstoffen und Früchten so reichen Bolivien. "Wenn man den Reichtum Boliviens gleich verteilen würde, gäbe es keine Armut mehr", ist auch Nicolaus überzeugt.

Das Elendsviertel ist eine eigene Stadt mit Vize-Bürgermeister, 104 Stadtteilen und einem Kanal, in dem die Abwässer fließen. "Plan tres mil" heißt die Stadt der Armen, Plan 3000 - so genannt, weil 3000 Menschen nach einer Überschwemmung des nahen Flusses obdachlos und umgesiedelt wurden. Heute leben hier hundert Mal so viele.

Die Stadt der Armen ist mehr als eine Ansiedlung von Wellblech-Hütten, sie ist voller Leben. Entlang der asphaltierten Hauptstraße, der einzig befestigten Straße, reihen sich Internet-Cafés, Motels und Restaurants, Tankstellen, Schneider und Auto-Werkstätten, Friseure und ein koreanischer Missions-Kindergarten, eine Karaoke-Bar und das Café-Che-Guevara, ein Kickbox-Studio, Bolzplätze und schöne Häuser, von Mauern umgeben, in deren Kronen Glasscherben stecken.

Zwei Drittel der Menschen in "Plan 3000" sind arm, erläutert Nicolas, ein Drittel lebt im Elend. Und Elend heißt: Hunger, Unterdrückung, Gewalt. Nur wo Nicolas lebt, am Rande des Elends, ist es schön, selbst nach europäischem Maßstab: Große Steinhäuser, gepflegte Parks, von Licht geflutete Räume, ein Theater, ein Krankenhaus, eine Universität, an der 500 junge Leute mit einem Stipendium studieren können, und ein riesiges Schwimmbad, in das an heißen Sonntagen einige Tausend kommen gegen geringen Eintritt.

Auch die Armen, nicht nur die Reichen, haben ein Recht auf Schönheit, sagt Nicolas und zitiert Dostojewski: "Nur die Schönheit rettet die Welt!"

Nicolas predigte dreizehn Jahre lang als Bischof im spanischen Palencia, bevor er dem Papst aus Polen seinen Abschied einreichte. "Ich wollte nicht nur predigen, sondern das tun, was ich in meinen Predigten forderte: Als Jünger Jesu für die Armen da zu sein."

So flog er vor zwanzig Jahren aus einem katholischen Land, dem Land der ehemaligen Unterdrücker, in ein anderes katholisches Land, dem Land der Unterdrückten, das in seinen Strukturen immer noch an den Folgen leidet, dessen Seele immer noch kolonialisiert ist.

Ob er seinen Abschied von Europa bereut? Er schüttelt den Kopf, und es ist nicht einmal ein Anflug von Ironie in seiner Stimme, wenn er sagt: "Ihr habt im Norden dieser Welt alles, was ihr zum Leben braucht. Aber euch fehlt der Grund, warum ihr lebt. Hier in Südamerika gibt es diesen Grund, aber es fehlt alles, was die Menschen zum Leben brauchen." Nicolas erzählt von der großen Solidarität der Armen, von ihren wunderbaren Festen und Feiern.

"In Bolivien kann man mit wenig Geld viel erreichen", weiß Nicolas. Er sammelt Spenden in Spanien, baute hundert Schulen und sechs Kulturhäuser überall im Land, unterhält die Universität. "Ein Land ohne Erziehung und Bildung kommt nie aus der Armut heraus."

Wir gehen zum Vize-Bürgermeister und einigen Politikern. Nicolas kommt nicht mit. Er hatte für die alten Regierungen nichts übrig, für die neue, die Indio-Regierung auch nicht, weil sie mehr Korruption und Drogenhandel zulasse als je zuvor. Aber "die Kirche hält sich aus der aktuellen Politik heraus, das ist richtig so; wir sind die Kirche mit den Armen, das ist unsere Glaubwürdigkeit, eine größere gibt es nicht."

Im hellen Raum des Gemeindezentrums sitzen die Funktionäre der Armut, ein Komitee aus Menschen, die bis zum Wahlsieg des Indio-Präsidenten Evo Morales nichts zu sagen hatten. Ihre Partei, die MAS, ist keine Partei im deutschen Sinne mit Vorsitzendem, Parteitagen und endlosen Debatten. Die Partei der Indios ist wie diese Versammlung: eine Mischung aus Funktionären, die der Wahlsieg ins Amt gebracht hat, Nachbarschafts-Gruppen, Gewerkschaften, Frauen-Gruppen, Kleinhändler-Vereinigung und sozialen Initiativen.

Die Versammlung ist auch wie ein Spiegel des armen Boliviens, die Menschen kommen aus allen Regionen, Kulturen und ethnischen Gruppen. Hier kann man zuschauen, wie politisches Bewusstsein entsteht. Sie haben in "Plan tres mil" Wahlkampf geführt für Evo Morales, sie gehörten zu seiner Partei, einfach indem sie sagten: Ich gehöre dazu - ohne Parteibuch und Mitgliedsbeitrag. Sie holten 54 Prozent der Stimmen, jetzt haben sie das Sagen, aber kaum Geld.

Sie sprechen über die Zukunft, sie sprechen hart und applaudieren sich gegenseitig. Eduardo, der Vize-Bürgermeister, lobt Evo Morales, Boliviens Präsidenten, der gerade einen Aufruhr vereiteln konnte.

Vor Weihnachten verdoppelte der Präsident die Benzinpreise und nahm dies, als das Volk buchstäblich auf die Barrikaden ging, nach Weihnachten wieder zurück. Eduardo nimmt den Präsidenten in Schutz: "Wir haben schlechte Minister, die nicht auf das Volk hören, aber wir haben einen guten Präsidenten, der weiß, wie das Volk denkt." So einfach ist das.

Der lokale Präsident der MAS-Partei spricht erst leise, sodass sein Name untergeht, dann aber kämpferisch und laut: "Wir sind gegen den Profit der Kapitalisten, wir werden alles anders machen."

Jose, der Zimmermann, trägt ein Calvin-Klein-Hemd, das wohl nach einer Altkleider-Sammlung aus Deutschland nach Bolivien kam. Er möchte die deutschen Gästen am liebsten umarmen: "Wir danken für die Unterstützung im Kampf, der auch ein internationaler ist. Wir haben eine bedeutende historische Gelegenheit, wir müssen sie nutzen." Alle freuen sich und klatschen.

Juan ist Vertreter der Kleinst-Unternehmer, er ist Schreiner: "Wir sind gegen den Export von gutem Holz. Wir sind gegen die Kapitalisten, die allein das gute Holz bekommen. Wir wollen bessere Geschäfte machen."

Die Reise organisierte die Bundeszentrale für politische Bildung, die in ihrem Projekt "America Latina 200" an die Befreiung Südamerikas von der Kolonialherrschaft erinnert.

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