Freitag, 18. Februar 2011

Bolivianisches Tagebuch (Teil 4): Das Volk darf Gericht halten

(Thüringer Allgemeine vom 17.02.2011)

Von Paul-Josef Raue

Den Indios in Bolivien wird zugebilligt, nach mündlich überlieferten jahrhunderten alten Regeln Recht zu sprechen. Verbannung aus der Dorfgemeinschaft und die Peitsche sind beliebte Strafen für Vergehen.

Es ist keine Freude, in Bolivien Präsident zu sein. Ist das Volk unzufrieden, baut es Barrikaden, macht einen Aufstand und jagt den Präsident davon - wie zuletzt vor acht Jahren. Der Nachfolger gab mehr oder minder freiwillig nach anderthalb Jahren auf.

Er brachte die Campesinos, in die Demokratie. Sie bekamen Stellen im Staatsdienst, konnten mitreden und regieren. Doch so wenig Morales Partei, die Bewegung zum Sozialismus, eine Partei im westlichen Sinne ist, sondern ein Bündnis von Gewerkschaften und sozialen Initiativen, so wenig ist die Demokratie eine im westlichen Sinne.

Sie ist eine direkte Demokratie. Sie nährt sich aus Stimmungs-Meldungen der Initiativen, Nachbarschafts-Komitees und Gewerkschaften.
So sollen Barrikaden vermieden werden, deren Errichtung eine Art Volkssport geworden ist. Was bei dem sportlichen Volk nicht recht gelingen will. So unternimmt Bolivien das wohl spannendste Experiment der Welt: Einen Sozialismus mit demokratischem Antlitz, einen langsamen Abschied vom wirtschaftlichen Liberalismus. Ob dies einem der ärmsten Länder der Welt gelingen kann? Funktioniert Demokratie auch anders als nach westlichen Mustern? Oder schlägt sie, wie meist in Südamerika, in Diktatur um? Auf der Außenlinie des Fußball-Platzes sitzen Hunderte Dorfbewohner auf mitgebrachten Klappstühlen. Sie schauen auf das Wasser des mächtigen Titicacasees, auf die gewaltige Bergkette der Kordilleren am anderen Ufer, auf Kartoffel-Beete und Wasserpflanzen. Auf einem kleinen Erdhügel hockt die andere Hälfte der Versammlung und schaut auf das Dorf Huatajata. Alle tragen Hut, weiße und hellblaue die Frauen, braune und schwarze die Männer. Man könnte es eine Idylle nennen: Die bunten Trachten, das sanft gekräuselte Wasser des Titicacasees. Doch Touristen sind weit und breit nicht zu sehen. Und Idyllen neigen dazu, trügerisch zu sein.

So trifft sich das Dorf und hält Gericht. Am Ufer des Sees debattiert es über das schöne Haus am See, das Victor Hugo Cardenes und seiner Frau gehört. Cardenes war vor 15 Jahren der erste Indio als Vizepräsident Boliviens. Als er vor Kurzem gegen die neue Verfassung und somit gegen die sozialistische Regierung kämpfte, erklärte ihn diese unter der Hand zum Staatsfeind.

Ich habe Angst. Sie haben versucht, meine Familie umzubringen, hatte Cardenes bei einem Besuch in der Regierungsstadt La Paz erzählt, sie haben mein Haus auf dem Land verbrannt. Das Haus steht noch, die Fenster sind eingeworfen, die Räume verwüstet, die Wände beschmiert mit Parolen Eigentum des Volkes! Haus für das dritte Alter darauf anspielend, dass hier die Dorfversammlung ein Altenheim einrichten will. Ein Altenheim? In einer Dorfgemeinschaft, in der die Familie heilig ist und die Alten nie abgeschoben werden?
Die Dorfversammlung auf dem Sportplatz am See beschließt, Cardenes das Haus wegzunehmen. Sie passen nicht zu uns, sagen einige leise. Wir brauchen das Land, sagen die Offiziellen; sie verweisen auf die Zeiten der Großgrundbesitzer und erklären, Cardenes' Haus sei unrechtmäßig in dessen Besitz gelangt. Mit dem Haus will das Dorf gleich die dazugehörigen Ländereien konfiszieren.

Im Fall von Cardenes hat die Sportplatz-Versammlung nicht das letzte Wort, der Fall kommt wohl vor ein Gericht mit wahrscheinlich unabhängigen Richtern. Sie werden über die Enteignung beschließen müssen.
Wenn sich das Dorf trifft und über einen Bürger richtet, ist der Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft, die Verbannung aus der Heimat, eine beliebte Strafe, eine andere die Peitsche. Der Bürgermeister ist auch der Sheriff des Dorfes. Er trägt um die Schulter eine Peitsche als Zeichen der Macht, geschmückt mit Federn in den Farben Boliviens - und mit einigen weißen Federn, um ein Zeichen zu setzen: Ich bin nicht korrupt!

Wenn einer im Dorf lügt oder stiehlt, schlägt der Bürgermeister mit seiner Peitsche zu, spontan drei Hiebe in die Beine. Während er davon spricht, demonstriert er, wie die Peitsche singend schwingt: Er nimmt sie von der Schulter und schlägt in die Luft mit der Miene des Mächtigen, der Autorität besitzt - mit einem leichten Lächeln der Genugtuung. Er ist sichtbar stolz.
Jedes Dorf hat seine eigene Versammlung, sein eigenes Recht. Der Gouverneur in Sucre, der Hauptstadt, spricht von Hühnerdieben, denen es an den Kragen gehe, nur Hühnerdiebe, nichts Schwerwiegendes. So lösen wir kleine Probleme, schnell, billig. Wir brauchen keine teuren Prozesse. Ob es auch die Todesstrafe gebe?, fragen wir den Gouverneur. Nein, sagt er. Die Mehrheit in einem Dorf spricht gerechte Strafen aus, etwa eine Geldbuße, um die Schule ausbauen zu können, oder Arbeit für die Gemeinschaft.

Doch in einer kleinen Stadt Boliviens haben die Bewohner mit Taschendieben kurzen Prozess gemacht. Sie schleppten die Diebe auf den Sportplatz und zündeten sie an. Zwei starben. Einen ordentlichen Prozess gab es nicht. Indigene Justiz, rechtfertigte sich die Stadt der Mörder. Das war's.

In den Bergen nahe der chilenischen Grenze, wo man gerne Autos schmuggelt, hielten Polizisten einmal zu viel die Hand auf und drohten den Dorfbewohnern mit Anzeigen. Sie wurden kurzerhand getötet. Einen Prozess gab es nie. Geurteilt wird in den Dörfern manchmal schnell, auf jeden Fall nach anderen Moralvorstellungen als denen, die man den allgemeinen Menschenrechten zugrunde legt. Am Titicacasee hat einer schon schlechte Karten in der Justiz des Dorfes, der nicht aus der Gegend kommt, alleine lebt und nicht allzu fleißig ist. Denn, so sagt der mächtige Sekretär der Gewerkschaft, wer etwas gelten will, muss gesund sein, fleißig, verheiratet und einer von uns. Und korrupt darf er auch nicht sein.

Boliviens Präsident ist ein Indio, aber er hat keine Ehefrau und zwei uneheliche Kinder. Die Autoritäten vom Titicacasee zucken kurz mit den Augen, als die Sprache auf den Präsidenten kommt. Der Mann mit der Peitsche sagt: In der großen Stadt kann einer schon Single sein, und fügt drohend hinzu: Aber er muss gut sein. Wenn er nicht gut ist, werden wir ihn rausschmeißen, ob er Präsident ist oder nicht. Evo, unser Präsident, weiß eben nicht, was es heißt, Kinder zu haben und eine Frau.

In La Paz sieht man nahe des Markts Puppen an einigen Laternen, sie haben einen Strick um den Hals und einen gesenkten Kopf. So geht es Dieben, steht auf einem Schild, das ihnen um den Hals gehängt wurde. In der Indio-Stadt Alto auf der kalten Hochebene nahe La Paz hängen die Puppen zu Dutzenden. Sie hängen seit Monaten. Keiner nimmt sie ab.

Die Reise organisierte die Bundeszentrale für politische Bildung, die in ihrem Projekt America Latina 200 an die Befreiung Südamerikas von der Kolonialherrschaft erinnert.

Freitag, 11. Februar 2011

Bolivianisches Tagebuch (Teil 2):
Die Kinder von Potosí

(Thüringer Allgemeine vom 05.02.2011)
 

Von Paul-Josef Raue

In Sucre, der Hauptstadt Boliviens, leben die Leute, die mit dem Silber von Potosí zu Reichtum kamen. Im stolzem Präsidenten-Palast entstand der erste Teil des Bolivianischen Tagebuchs mit dem Gouverneur, der noch vor einem Jahr als Bauer über die Dorfstraße ging. Von Sucre aus windet sich eine Straße nach Potosí ins Silberbergwerk. Hier liegt der Reichtum des armen Anden-Staates.

Potosí. Am Eingang zu Hölle spielen drei Kinder, vielleicht acht, neun Jahre alt. Sie spielen auf einem grauen Platz, gerade mal fünf Meter im Quadrat, sie haben Rechtecke in den Staub geritzt, hüpfen um die Wette und tragen einen breitkrempigen Hut, der sie vor der Sonne schützt.

Neben ihrem Spielplatz hat brackiges Wasser eine schmale braune Rinne in den Stein gefräst, vor dem Hüpfkasten steht eine herrenlose Schubkarre, mit der die Steine und der Schutt weggeschafft werden, der sich nebenan türmt. Ein Hund döst auf den Steinen und schaut auf das Tal mit seinen Hütten und kleinen Häusern, auf Wellblech, Lehmziegel, ein Dutzend Bäume und ein paar Kneipen. Alles ist grau, grauer oder braun, nur ein Hauch von Grün, ein rotes Stück Wäsche auf einer Leine, unter der Arbeiter Schubkarren wuchten, sonst nichts Buntes, die Natur ist zu Stein erstarrt, zu Staub zerbröselt.

Es ist kalt, alles ist kalt. Der Spielplatz liegt in dünner Luft, rund 4200 Meter hoch am Hang eines Berges mit abgerundeter Kuppe. Die Einheimischen in ihrer Ketschua-Sprache nennen ihn den Heiligen Berg. Das hört sich an wie ein Scherz, es dürfte kaum einen unheiligeren Ort geben, an dem sich Menschen freiwillig aufhalten. Potosí, Weltkulturerbe in Bolivien, ist das Tor zur Hölle.

Millionen Arbeiter sollen im Bergwerk umgekommen sein

Doch diese Hölle in den Anden, im ehemaligen Reich der Inkas, macht wohlhabend in einem Land, wo für die Armen sonst nichts vorgesehen ist. In dieser Hölle liegt Silber, so viel Silber, dass die spanischen Eroberer blind vor Gier wurden. Eine Brücke aus Silber könnte man von Potosí nach Madrid bauen, prahlten die Kolonialherren. Rund 50.000 Tonnen Silber sollen in knapp fünfhundert Jahren aus dem Berg gefördert worden sein, noch doppelt so viel soll der Berg verbergen.

Man könnte auch eine Brücke aus den Knochen der Arbeiter bauen, erwiderten die Einheimischen, die Sklaven der Herren aus Europa. Zehn Millionen sollen in den Jahrhunderten der Kolonisation hier umgekommen sein, erschlagen im Stein oder erfroren in der eisigen Luft oder verzehrt von der Arbeit oder vergiftet vom Quecksilber, mit dem das Silber vom Stein getrennt wird.

Als die spanischen Eroberer vertrieben waren und Bolivien eine Republik wurde, ging es den Arbeitern noch schlechter. Die Spanier hatten ihnen wenigstens noch ihr Eigentum gelassen, die neuen Herren, die Großgrundbesitzer, nahmen ihnen alles. Das war vor gut hundert Jahren.

Vor dreißig Jahren verwandelte sich die höchstgelegene Großstadt der Welt in eine Geisterstadt. Die Silber-Preise sanken von einem Rekord-Tief zum anderen, die privaten Minenbetreiber gaben ebenso auf wie die aufgeblähten staatlichen Gesellschaften. Zudem ließ die linke Regierung das Geld in einem wahnsinnigen Tempo verfallen: Inflation von unvorstellbaren 26 000 Prozent.

Die nächste, eine neoliberale Regierung gab den Arbeitern wenigstens eine hohe Abfindung, damit sie die Hölle Potosí verlassen konnten. Die meisten kauften sich in den tieferen und heißen Lagen der Anden eine Koka-Plantage, sie wurden reich durch das Kokain in den grünen Blättern, sie ernteten mehrmals im Jahr und schlossen sich zu Genossenschaften zusammen.

Als der Silberpreis wieder stieg, kamen einige zurück und griffen auf den Erfolg der Genossenschaften, der Cooperativa, zurück. Heute beuten sich die Arbeiter selber aus, sparen an der Sicherheit um den Preis ihrer Gesundheit, kümmern sich nicht um Vorsorge für das Alter und die schlechten Tage. Sie schaffen eine Dreiklassengesellschaft aus eigenem Antrieb.

Zehn Prozent des Gewinns erhält die Genossenschaft

Oben stehen die Chefs, unter ihnen die Arbeiter, die auf eigenes Risiko in den Berg gehen, bis zu 250 Euro in der Woche verdienen oder auch gar nichts und rund zehn Prozent des Gewinns an die Genossenschaft zahlen. Am Ende der Skala stehen die Assistenten. Sie sind zuständig für die schwerste Drecks-arbeit, sie bekommen einen schmalen, aber festen Lohn.

Gut ein Dutzend Arbeiter verunglückt tödlich in jedem Jahr, einige werden in den Explosionen von Steinen erschlagen, andere stolpern betrunken in den Tod. Wer sich verletzt, wer krank wird, muss gehen. Arbeit ist nur für die Starken da.

Wir gehen in einen der zahllosen Stollen, die in den Berg gesprengt wurden. Das Dynamit kann man problemlos in einem der Geschäfte an der Straße zur Mine kaufen, es steht neben Gummistiefeln und den Lampen, die auf den Helm gesetzt werden. Nirgends dürfte man so leicht und preiswert an Sprengstoff gelangen.

Zwei, drei Kilometer lang durchziehen schmale Schienen die engen, glitschigen Stollen, die wie die Adern einer Hand den Berg durchziehen. Mit Loren wird der Stein ans Tageslicht gebracht. Zwischen den Wänden, an denen das Wasser im Lampenlicht glitzert, und den schwankenden Loren ist kaum genügend Raum, um sich in Sicherheit zu bringen, wenn Arbeiter laut rufend die Wagen durch den Berg schieben.

Die Arbeiter haben alle eine dicke rechte Wange. Es war und es ist eine brutale Arbeit, nur mit Drogen zu ertragen. Ein Dutzend Koka-Blätter, frei auf dem Markt von Potosí zu kaufen, liegt in der Wangentasche, der Speichel verwandelt die Blätter in die berauschende und betörende Droge, mit der man Berge ausbeuten kann. Zwei Stunden dauert die Wirkung an, die Zeitspanne nennen sie Coqueda. Es ist ein Zeitmaß geworden.

Die Spanier wollten die Droge verbieten, ein Konzil vor 450 Jahren nannte sie: Werk des Teufels. Doch das Silber war den Spaniern wichtiger als der Spruch der Kirche. Sie entdeckten, dass die Droge die Menschen arbeiten ließ bis zum Zusammenbruch.

Die Spanier sind geflohen, das Koka blieb. Von neun am Morgen bis um fünf am Abend schuften sie im Berg. Der älteste Arbeiter ist 65. "Er ist langsam ein wenig müde", sagen sie. Der jüngste heißt Walter und ist 15, so sagt er wenigstens. Sein Gesicht verrät, dass er viel jünger ist.

Bierdosen und Luftballons für die Teufel

Walter hat noch nicht die klobigen Hände mit den dicken Fingern. Er verlegt Leitungen in den Ecken, die sonst keiner mehr erreicht. Er ist fröhlich in der Welt der Erwachsenen, die ihn respektieren. Überall arbeiten Kinder in den Minen, die Männer erzählen davon, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Aber eigentlich, so fügen sie leise hinzu, wollen sie nicht, dass ihre Kinder Mineros werden, sie wollen sie lieber zum Studium schicken.

Am Ende des Stollens leuchtet ein Licht, das einen Altar erhellt: Eine blutrote Fratze, zum Karneval geschmückt mit Luftschlangen, Girlanden und grünen Luftballons; ein riesiger Penis; Bierdosen, Zigarettenschachteln und die kleinen Plastikflaschen mit gut 90-prozentigem Alkohol, den die Coqueros, die Koka-Kauer trinken, wenn die Wirkung der Blätter in der dicken Wange nachlässt.

Die Fratze schmückt jeden Stollen, es ist Ttio, der Teufel, umgeben von lokalen Teufels-Fratzen, denen die Arbeiter einen Namen geben, christliche Namen, so genau nimmt man es nicht. Im Berg endet die Macht der Kirche. "Oberhalb sind wir Christen", sagt Fredy, "unten sind die Teufel - und die müssen wir milde stimmen. Am Sonntag arbeiten wir nicht, dann gehen wir alle in die Kirche." Er macht keine Scherze.

Bolivianisches Tagebuch (Teil 3):
Plan tres mil

(Thüringer Allgemeine vom 10.02.2011)

Von Paul-Josef Raue

In der bolivianischen Stadt Santa Cruz kümmert sich ein ehemaliger spanischer Bischof nicht nur um das Seelenheil der Bevölkerung, sondern auch um deren Bildung und damit um deren Zukunft. 

Die Kinder betteln. "Wir haben Hunger." Sie umarmen Nicolas. Er gibt ihnen Geld, sie kaufen Brot, nichts Süßes. Die Kinder und Nicolas leben im Elendsviertel am Rande von Santa Cruz, der mit anderthalb Millionen Einwohnern größten Stadt Boliviens.

Nicolas ist 75 Jahre alt, er kommt aus Spanien, aus dem Land, das Bolivien und seine Menschen über fast drei Jahrhunderte ausgebeutet hatte. Nicolas Castellanos Franco, so sein voller Name, ist gekommen, um zu helfen - "nicht den Armen, sondern mit den Armen". Brücken will er bauen - "vom Rande der Gesellschaft ins Zentrum, nicht umgekehrt".

Eigentlich ist Hilfe nicht notwendig, denn Not und Hunger müssten nicht herrschen im an Rohstoffen und Früchten so reichen Bolivien. "Wenn man den Reichtum Boliviens gleich verteilen würde, gäbe es keine Armut mehr", ist auch Nicolaus überzeugt.

Das Elendsviertel ist eine eigene Stadt mit Vize-Bürgermeister, 104 Stadtteilen und einem Kanal, in dem die Abwässer fließen. "Plan tres mil" heißt die Stadt der Armen, Plan 3000 - so genannt, weil 3000 Menschen nach einer Überschwemmung des nahen Flusses obdachlos und umgesiedelt wurden. Heute leben hier hundert Mal so viele.

Die Stadt der Armen ist mehr als eine Ansiedlung von Wellblech-Hütten, sie ist voller Leben. Entlang der asphaltierten Hauptstraße, der einzig befestigten Straße, reihen sich Internet-Cafés, Motels und Restaurants, Tankstellen, Schneider und Auto-Werkstätten, Friseure und ein koreanischer Missions-Kindergarten, eine Karaoke-Bar und das Café-Che-Guevara, ein Kickbox-Studio, Bolzplätze und schöne Häuser, von Mauern umgeben, in deren Kronen Glasscherben stecken.

Zwei Drittel der Menschen in "Plan 3000" sind arm, erläutert Nicolas, ein Drittel lebt im Elend. Und Elend heißt: Hunger, Unterdrückung, Gewalt. Nur wo Nicolas lebt, am Rande des Elends, ist es schön, selbst nach europäischem Maßstab: Große Steinhäuser, gepflegte Parks, von Licht geflutete Räume, ein Theater, ein Krankenhaus, eine Universität, an der 500 junge Leute mit einem Stipendium studieren können, und ein riesiges Schwimmbad, in das an heißen Sonntagen einige Tausend kommen gegen geringen Eintritt.

Auch die Armen, nicht nur die Reichen, haben ein Recht auf Schönheit, sagt Nicolas und zitiert Dostojewski: "Nur die Schönheit rettet die Welt!"

Nicolas predigte dreizehn Jahre lang als Bischof im spanischen Palencia, bevor er dem Papst aus Polen seinen Abschied einreichte. "Ich wollte nicht nur predigen, sondern das tun, was ich in meinen Predigten forderte: Als Jünger Jesu für die Armen da zu sein."

So flog er vor zwanzig Jahren aus einem katholischen Land, dem Land der ehemaligen Unterdrücker, in ein anderes katholisches Land, dem Land der Unterdrückten, das in seinen Strukturen immer noch an den Folgen leidet, dessen Seele immer noch kolonialisiert ist.

Ob er seinen Abschied von Europa bereut? Er schüttelt den Kopf, und es ist nicht einmal ein Anflug von Ironie in seiner Stimme, wenn er sagt: "Ihr habt im Norden dieser Welt alles, was ihr zum Leben braucht. Aber euch fehlt der Grund, warum ihr lebt. Hier in Südamerika gibt es diesen Grund, aber es fehlt alles, was die Menschen zum Leben brauchen." Nicolas erzählt von der großen Solidarität der Armen, von ihren wunderbaren Festen und Feiern.

"In Bolivien kann man mit wenig Geld viel erreichen", weiß Nicolas. Er sammelt Spenden in Spanien, baute hundert Schulen und sechs Kulturhäuser überall im Land, unterhält die Universität. "Ein Land ohne Erziehung und Bildung kommt nie aus der Armut heraus."

Wir gehen zum Vize-Bürgermeister und einigen Politikern. Nicolas kommt nicht mit. Er hatte für die alten Regierungen nichts übrig, für die neue, die Indio-Regierung auch nicht, weil sie mehr Korruption und Drogenhandel zulasse als je zuvor. Aber "die Kirche hält sich aus der aktuellen Politik heraus, das ist richtig so; wir sind die Kirche mit den Armen, das ist unsere Glaubwürdigkeit, eine größere gibt es nicht."

Im hellen Raum des Gemeindezentrums sitzen die Funktionäre der Armut, ein Komitee aus Menschen, die bis zum Wahlsieg des Indio-Präsidenten Evo Morales nichts zu sagen hatten. Ihre Partei, die MAS, ist keine Partei im deutschen Sinne mit Vorsitzendem, Parteitagen und endlosen Debatten. Die Partei der Indios ist wie diese Versammlung: eine Mischung aus Funktionären, die der Wahlsieg ins Amt gebracht hat, Nachbarschafts-Gruppen, Gewerkschaften, Frauen-Gruppen, Kleinhändler-Vereinigung und sozialen Initiativen.

Die Versammlung ist auch wie ein Spiegel des armen Boliviens, die Menschen kommen aus allen Regionen, Kulturen und ethnischen Gruppen. Hier kann man zuschauen, wie politisches Bewusstsein entsteht. Sie haben in "Plan tres mil" Wahlkampf geführt für Evo Morales, sie gehörten zu seiner Partei, einfach indem sie sagten: Ich gehöre dazu - ohne Parteibuch und Mitgliedsbeitrag. Sie holten 54 Prozent der Stimmen, jetzt haben sie das Sagen, aber kaum Geld.

Sie sprechen über die Zukunft, sie sprechen hart und applaudieren sich gegenseitig. Eduardo, der Vize-Bürgermeister, lobt Evo Morales, Boliviens Präsidenten, der gerade einen Aufruhr vereiteln konnte.

Vor Weihnachten verdoppelte der Präsident die Benzinpreise und nahm dies, als das Volk buchstäblich auf die Barrikaden ging, nach Weihnachten wieder zurück. Eduardo nimmt den Präsidenten in Schutz: "Wir haben schlechte Minister, die nicht auf das Volk hören, aber wir haben einen guten Präsidenten, der weiß, wie das Volk denkt." So einfach ist das.

Der lokale Präsident der MAS-Partei spricht erst leise, sodass sein Name untergeht, dann aber kämpferisch und laut: "Wir sind gegen den Profit der Kapitalisten, wir werden alles anders machen."

Jose, der Zimmermann, trägt ein Calvin-Klein-Hemd, das wohl nach einer Altkleider-Sammlung aus Deutschland nach Bolivien kam. Er möchte die deutschen Gästen am liebsten umarmen: "Wir danken für die Unterstützung im Kampf, der auch ein internationaler ist. Wir haben eine bedeutende historische Gelegenheit, wir müssen sie nutzen." Alle freuen sich und klatschen.

Juan ist Vertreter der Kleinst-Unternehmer, er ist Schreiner: "Wir sind gegen den Export von gutem Holz. Wir sind gegen die Kapitalisten, die allein das gute Holz bekommen. Wir wollen bessere Geschäfte machen."

Die Reise organisierte die Bundeszentrale für politische Bildung, die in ihrem Projekt "America Latina 200" an die Befreiung Südamerikas von der Kolonialherrschaft erinnert.

Mittwoch, 2. Februar 2011

Bolivianisches Tagebuch (Teil 1):
Der Bauer als Präsident

(Thüringer Allgemeine vom 29.01.2011)

Von Paul-Josef Raue


Hat der Sozialismus, staatlich organisiert, noch eine Chance? Vor zwanzig Jahren dachte keiner an eine Auferstehung des organisierten Kommunismus. Doch in Südamerika dreht sich der Wind. In demokratischen Wahlen kommen Regierungen an die Macht, die sich ihre Ideale von Karl Marx borgen.

Der Präsident trägt einen Hut, wenn er den Konferenzraum betritt, in dem einst die Kolonialherren ihre Untertanen empfingen. Er trägt einen schwarzen Hut, der vor der Hitze schützt, einen Sombrero, den Hut der spanischen Kolonialherren. Den Hut tragen heute die armen Leute im Hochland Boliviens.

Der Präsident kommt ohne Strümpfe, seine Füße stecken in Sandalen, in denen er als Bauer über die Dorfstraße gegangen ist. Er hat ein buntes grobes Baumwollhemd angezogen, so wie es ein armer Bauer trägt. Der Präsident ist Esteban Urquizu Cuellar, er hat nur fünf Jahre die Schule besucht, so sagt er. Heute ist er Chef in der Hauptstadt Boliviens, in Sucre, einer stolzen Stadt mit schönen Häusern, die es nicht verwunden hat, dass sich die Mächtigen des Landes La Paz zum Regierungssitz erkoren haben. Esteban ist Gouverneur von Chuquisaca, der Ministerpräsident der ärmsten Provinz im ärmsten Land Südamerikas. Auf einem Sofa in seinem Vorzimmer sitzen Bauern aus dem Hochland, die früher den Palast allenfalls aus der Entfernung ansehen durften. Esteban hört sie an, er wird ihnen helfen, so es in seiner Macht steht, sagt er. Er ist einer von ihnen, das sieht man, er hat die Macht, die absolute Macht. Seine Partei verfügt über die Zweidrittelmehrheit im Provinz-Parlament, seine Partei stellt die meisten der 25 Bürgermeister, die - wie er - Gewerkschafts- Führer waren.

Er zeigt den Stolz. Erstmals in der Geschichte Boliviens haben die Indianer und Bauern die lokale Macht genommen, die regionale und die nationale Macht. In unserer neuen Verfassung steht: Jeder Politiker und jeder Beamte muss zwei unserer Sprachen sprechen. Ich spreche Ketschua und Spanisch.

36 offizielle Sprachen, also Sprachen der Ureinwohner, kennt die Verfassung, mindestens eine von ihnen muss sprechen, wer gewählt werden will. Die Zweisprachigkeit der Mächtigen, die Beherrschung einer der alten Sprachen, der Sprache der Unterdrückten, soll ein Zeichen sein, dass sich die Zeiten geändert haben. Die Indios, die seit Jahrhunderten unterdrückt wurden, haben das Sagen, buchstäblich. Das ist die bolivianische Spielart des Sozialismus, zu der zwei Quotenregelungen gehören: Die Indios bedienen die Hebel der Macht - und zur Hälfte die Frauen der Indios.

Überall in den Parlamenten und Regierungen muss die Hälfte der Macht weiblich sein. Doch das ist kaum per Dekret zu verwirklichen in einer Gesellschaft, die männlich ist wie kaum eine andere, in der ein Mann ein Macho ist, so erzogen, so selbstbewusst. Meist bleibt die männliche Mehrheit, denn die Parlamente in den Dörfern haben fünf Sitze. Esteban, der Provinz-Präsident, ist 29 Jahre jung, und er ist stolz, jung zu sein. Die Älteren haben nur die Erfahrung, wie man stiehlt. Er hat nie einen Beruf gelernt, nie studiert. Wir hatten kein Geld in unserer Familie, erzählt er, ich bin intelligent, aber habe nie gedacht, dass ich Präsident werden könnte.

Der Anführer seiner Partei, der Präsident Boliviens, hat es ihm auch nicht zugetraut. Mit dir gewinnen wir hier nicht, mit dir gewinnen wir diese Provinz niemals, hat er ihm zugerufen und erst in letzter Minute akzeptiert, dass er kandidieren darf.

Esteban gewann mit 53 Prozent und folgte einer Frau nach, die die Schwester seiner Mutter ist, allerdings im anderen politischen Lager. Nun befiehlt Esteban seit sieben Monaten die Polizisten, die ihn einst, den Bauern und Gewerkschafter, gesucht und verfolgt hatten. Er führt eine Verwaltung, von der er keine Ahnung hat. Ich bin ein Bauer, sagt er, aber es ist nicht unmöglich. Wir müssen fünfhundert Jahre aufholen. Aber wir Indios sind die Reserven, wir haben noch Kraft und Visionen. Wir wollen regieren, ohne zu stehlen.

Gestohlen haben die Mächtigen vor ihm, so sieht er es - und nicht nur gestohlen, sondern auch erniedrigt und beleidigt. So heißt der Dokumentarfilm eines berühmten Argentiniers, der vor zwei Jahren in Sucre gedreht wurde. Es ist ein Film, der das Fürchten lehrt. Campesinos, die Ärmsten der Armen, werden von den Städtern durch Sucre geprügelt und mit dem Tode bedroht. Die Menschen vom Lande werden gezwungen, auf die Knie zu fallen und die Fahne der Herr-schenden zu küssen. Die weißen Bürger schauen zu, das Militär zieht sich ebenso zurück wie die Polizei. Es herrscht Lynchjustiz der wohlhabenden Bürger, darunter Professoren der Universität.

Verschwörungstheorien kommen schnell in Umlauf. Bestellte Schlägerbanden sollen den Aufruhr angezettelt haben. Bolivien ist ein Land, das mehr Verschwörungen nennt als Wahrheiten. Die Bürger, die vor zwei Jahren die Ärmsten durch die Stadt jagten, sind heute die Opposition. Sie haben immer weniger zu sagen. Die wenigen Gouverneure und Bürgermeister aus der Opposition, die gewählt wurden, verlieren nach und nach ihr Amt und werden ersetzt durch regierungstreue Nachfolger. Möglich macht es ein Gesetz, nach dem ein Gewählter sein Amt schon abgeben muss, wenn der Staatsanwalt gegen ihn ermittelt - also lange bevor ein Richter entscheidet. Der Staatsanwalt ist im Griff der Regierung.

Die Indios sind nach allen Regeln der demokratischen Kultur an die Macht gekommen, ohne Manipulation, in der zweiten nationalen Wahl sogar mit einer Zweitdrittelmehrheit, mit der sie alles verändern können - und auch verändern wollen.

Auch der Präsident von Sucre ist vom Volk gewählt. Mit viel Angst habe er sein Amt angetreten, erzählt er und knackt mit den Gelenken seiner Finger. Es war wie eine Prüfung, vor der man fragt: Und wenn ich sitzenbleibe? Er wusste auch nicht, was mit all dem Geld anzufangen sei, das er zu verteilen hatte. Er gab bis Ende des vergangenen Jahres nur drei Viertel des Etats aus.

Aber selbst wenn er seinen Etat ausschöpft, wird er kaum investieren können. Das weite Land ist elend arm, wohlhabend ist nur die Hauptstadt, in der er residiert und in der so viele Einwohner wie in Erfurt leben, eine hübsche Stadt, Weltkultur-Erbe wegen der gut erhaltenen Kolonialbauten mit der ehemaligen Jesuiten-Universität und ihren Kreuzgängen und dem achteckigen Brunnen oder dem Zedernholz-Altar in der barocken Kathedrale.

Die Bürger von Sucre, die Kaufleute und Beamten, haben ihn, den Bauern aus dem Hochland, nicht gewählt. Also will er vor allem die bedenken, die jahrhundertelang nicht an der Reihe waren. Er will den kleinen Leuten, den Bauern und Mini-Händlern, Versicherungen schenken, er will in die Köpfe der jungen Leute investieren, die Bildung verbessern und mehr Ärzte und Medikamente in die Dörfer schicken. Die Ärzte kommen aus Kuba.

Vor allem müsste er Wasser schicken, denn der Regen bleibt aus, die Felder vertrocknen. Der Klimawandel ist gegen uns, klagt er.

Als erste Amtshandlung hat er sein Gehalt gekürzt. Die Präsidenten vor ihm bekamen 20000 Bolivianos im Monat, er nimmt nur 12000, das sind umgerechnet rund 1200 Euro. Das ist dennoch das 15-Fache von dem, was ein Bolivianer im Durchschnitt zum Leben hat.

Neben ihm liegt ein Blackberry, das Markenzeichen eines modernen Managers, mit dem er ständig seine elektronische Post lesen und seinen Kalender führen kann. Esteban liest nicht. Sein Sekretär reicht ihm einen Zettel, er nickt. Eine Abordnung der Coca-Bauern wartet auf ihn.

Die Reise organisierte die Bundeszentrale für politische Bildung, die zurzeit den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf Südamerika legt, anlässlich von America Latina 200, der Erinnerung an die Befreiung von der Kolonialherrschaft vor rund 200 Jahren.