Freitag, 3. Juni 2011

Jerusalem, Flughafen Tel Aviv – 10. und 11.05.

Am vorletzten Tag unserer Reise treffen wir die Jeckes – so werden hier halb ironisch die Einwanderer aus dem deutschsprachigen Raum bezeichnet. Angeblich weil sie stets auf Korrektheit achteten und ihre Jacken nicht ablegten. Trotzdem wurden sie auch immer als Crème de la Crème der aus Europa stammenden Ashkenasim betrachtet. Avital Ben Chorin, Ester Golan und David Rubinger, alle gut über 80 Jahre alt, kommen zu uns ins Hotel, um sich beim Frühstücksbüffet ordentlich ausfragen zu lassen. Und wir enttäuschen sie nicht. Anfangs noch brav in kleinere Gruppen aufgeteilt, sitzen wir an unseren Tischen, nach einer Weile aber setzen wir uns zu den anderen, um weitere Geschichten zu hören. 

Beim Frühstück mit den "Jeckes"

Eine Gemeinsamkeit unserer drei Gäste ist, dass sie als ganz junge Menschen, noch vor dem Krieg ohne ihre Angehörigen nach Palästina kamen. Und obwohl sie alle drei ihre Familien im Holocaust verloren haben, blieben sie selbst vor den Schrecken der Shoah verschont. Ihre Jugend wurde vor allem durch den Unabhängigkeitskrieg 1948, der Entstehung des Staates Israel und dessen Etablierung geprägt. Es ist also kein Zufall, dass wir sie gerade heute, am Unabhängigkeitstag, treffen.

David Rubinger mit seiner Leica

Ich setze mich zu David Rubinger. Der 1924 in Wien geborene berühmte Fotojournalist erzählt uns von seiner Kindheit in Wien, wo er schon in der Schule mit dem Antisemitismus in Berührung kam. „Es hat nicht mit Hitler angefangen, Österreich war schon viel früher schrecklich antisemitisch“, sagt er. Nachdem er mit vierzehn ein Schulverbot verhängt bekam, engagierte er sich für die zionistische Jugendbewegung. 1939, mit fünfzehn, kommt er gerade rechtzeitig nach Palästina, wo er zunächst in einem Kibbuz lebt. Ab 1942 kämpft er bei der britischen Armee, unter anderem in der Jüdischen Brigade. Kurz nach dem Krieg kommt er nach Deutschland, in Gelsenkirchen lernt er seine zukünftige Frau kennen. Doch in Europa will er nicht bleiben. „Ich will mit dem Holocaust nicht leben. Nicht meine cup of tea!” - sagte er zu ihr.
In den darauf folgenden 60 Jahren arbeitet er als freiberuflicher Fotojournalist und Mitarbeiter der TIME in Israel. Sein berühmtestes Foto, das auch auf dem Umschlag seines Buches Israel durch mein Objektiv. Sechzig Jahre als Fotojournalist zu sehen ist, zeigt israelische Fallschirmjäger, die vor der 1967 wiedereroberten Klagemauer stehen. 

David Rubingers Buch
 
Was für eine Kamera benutzen Sie?“, will jemand wissen. „Nur Leica, ich arbeite ausschließlich mit Leica!“ – lacht er. Natürlich können wir uns eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen und wir bitten ihn um ein Foto. „Klar, mache ich!“ Und noch an demselben Tag bekomme ich es von ihm per E-mail mit besten Grüßen zugeschickt! Ein Jecke bleibt eben ein Jecke – heißt es in einem alten Witz, in dem nach dem Unterschied zwischen einem Jecke und einer Jungfrau gefragt wird.

Leica-Gruppenfoto beim Büffet

Um den Abend frei zu schaufeln, wird die geplante Auswertung der Reise mit dem Bilanzgespräch mit Anita Haviv zusammengelegt. Am Anfang geht es deswegen ein bisschen chaotisch zu, da viele von uns ihre Schlussfolgerungen mit einer gleichzeitigen Bewertung vermischen, was ich nicht unbedingt schlecht fand.

Bei einem Versuch, Essentielles und Synthetisches für das Landbild und seine Erinnerungskultur(en) zu formulieren, scheinen mir zwei Aspekte besonderes zutreffend gewesen zu sein: Zum Ersten (worauf uns schon unsere Referenten aufmerksam gemacht haben), dass die Israelis mit ihrer ausgeprägten nationalen und ethnischen Staatsidentität noch im 19 Jahrhundert stecken, während Deutschland schon postnationale Tendenzen zeigt. Wer also das Land mit unseren europäischen Maßstäben und aus europäischer Perspektive betrachtet, wird immer wieder darüber stolpern, weshalb eine Analyse, die nicht aus dem Kontext heraus gemacht wird, zu scheitern droht.
Zum Zweiten gibt es in Israel zwei Paradigmen, wenn es um das Gedenken geht: jenes der Opfer und jenes der Helden. Daraus ergeben sich auch die Differenzen zwischen den vielen unterschiedlichen Erinnerungsgruppen, die in einer so durchritualisierten Gesellschaft, wie der israelischen besonders gravierend scheinen: „Bis zum Rande des Unerträglichen“, wie es Anita Haviv formulierte.

Was wir von der Reise mit nach Hause nehmen? Persönlich und beruflich? Was waren die Highlights? Was kam zu kurz? So lauteten die Fragen bei der Auswertung.

Sehr viele Fragen in der Auswertungsrunde

Aus einem so spannenden Land wie Israel kehrt wohl niemand mit leeren Händen nach Hause zurück. Als Highlights wurden vor allem die Fahrt entlang der Grünen Linie, der Ramallahbesuch und der Vortrag von Gil Yaron genannt. Aber auch andere Programmpunkte, wie die Besuche in Lochamei Hagetaot und in Yad Vashem, die Vorträge von Nathan Shnaider, das Treffen mit Bob Lang in der Siedlung Efrat oder das Gespräch mit Etgar Keret und Lizzi Doron fanden ihre Befürworter. Bei den Anregungen für die Zukunft werden Genderfragen, Armut, Generationskonflikte, sowie der Einfluss russischer Emigranten genannt. Wünschenswert wären auch Gelegenheiten zu direkten Gesprächen mit Militärs, Politikern oder Lehrern.

Verstärkte Kontrollen in Jerusalems Innenstadt

Am frühen Nachmittag sind die Straßen im Zentrum Jerusalems wie leergefegt: entweder schlafen die Einwohner die durchgefeierte Nacht aus, oder sie sind zu einem am Unabhängigkeitstag traditionellen Picknick aufgebrochen. Nur in der Altstadt wimmelt es wie immer von Touristen und Pilgern. Die sichtlich verstärkten Sicherheitsstreifen deuten darauf hin, dass es ein besonderer Tag ist. Auf der Suche nach einem hot-spot landen wir schließlich auf der schönen Terrasse von Y.M.C.A. mit dem Blick auf das berühmte King David Hotel. Bei gutem Nanatee genießen wir diesen Moment der Ruhe nach der Hektik der letzten Tage…

Auf der Terrasse des Y.M.C.A. Hotels

Am nächsten Tag ganz früh noch ein kurzer Besuch auf dem Tempelberg, dann ein bisschen Entspannung auf der Hotelterrasse und schließlich ist es Zeit zum Flughafen auszubrechen. Noch der letzte Blick durchs Busfenster auf das sich entfernende Jerusalem und das Gefühl der Wehmut.
Die Zeit war so kurz, es gibt endlos viel, was wir nicht gesehen haben und wir könnten noch so viel mehr erfahren. Hanni bringt uns bis zur Sicherheitskontrolle und wir nehmen Abschied. Tschüss, Hanni, und danke! Auf Wiedersehen! Wir kommen wieder!

Good Bye Jerusalem



Montag, 9. Mai 2011

Jerusalem (Yad Vashem, Ben Gurion-Viertel) - 09. 05.

Noch gestern Abend trafen wir den in New York geborenen Filmregisseur Joseph Cedar. Sein Film „Beaufort“, der auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, ist von einer wahren Geschichte aus dem Libanonkrieg 1982 inspiriert worden, die in der Festung Beaufort in Südlibanon spielt. Nachdem wir einen Ausschnitt aus dem Spielfilm gesehen haben, spricht Joseph darüber, was ihn an dieser Geschichte so bewegt hat: vor allem die Sinnlosigkeit des Sterbens und die tiefe Kluft zwischen Befehlshaber und einfachen Soldaten, die ihr Leben sinnlos aufs Spiel setzen müssen.

Joseph Cedar
Es ist nicht von ungefähr, dass das Gespräch mit Cedar gerade an diesem Abend stattfand. Um 20:00 Uhr ertönen wieder die Sirenen: es ist der Vorabend des Gedenktages für die gefallenen Soldaten – Yom HaSikaron. Insgesamt etwa 170.000 von ihnen verloren ihr Leben im Kampf um die Verteidigung des Staates. Wir stellen uns an einer zum Hotel nahegelegenen Kreuzung und sehen, dass anders als in Tel Aviv bei weitem nicht alle Passanten und Autos anhalten. Manche Autofahrer hupen ungeduldig. Ein paar Ultraorthodoxe überqueren demonstrativ die Straße. Da sie den Dienst in der Armee ablehnen und den Staat Israel nicht anerkennen, ignorieren sie auch den Gedenktag.
Am nächsten Morgen ist ein Besuch in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem vorgesehen. Wir brechen rechtzeitig auf, denn wegen der offiziellen Feierlichkeiten auf dem Soldatenfriedhof auf dem Herzl-Berg kann es leicht zu einem Stau kommen. Wir fahren dort vorbei und durch die Fenster sehen wir die Menschenmassen, die zum Friedhof strömen. Es sind vor allem die Familienangehörigen und Freunde der Gefallenen, aber auch Soldatinnen und Soldaten und viele Schüler, erklärt uns Hanni. 

Der Eingang zur Gedenkstätte Yad Vashem
Das auf einem Hügel gelegene Gelände der Gedenkstätte ist sehr groß. Außer der Hauptausstellung gibt es hier auch ein Archiv mit einer Bildungsstätte, ein Kunstmuseum, ein Kinder-Memorial, die Gedächtnishalle und eine große Buchhandlung. Ein Weg nach unten führt durch das Tal der Gerechten zum Tal der Gemeinden. Wir treffen viele andere Gruppen, auch Jugendliche. Doch die meisten Israelis verbringen den heutigen Tag bei Feierlichkeiten, die in ihren Städten und Gemeinden stattfinden, informiert uns der Historiker, Dr. Yaacov Lozovick, der uns durch das Museum der Geschichte des Holocausts führt. Das 1953 gegründete Museum wurde 2005 nach einem totalen Umbau wiedereröffnet und entspricht heute den höchsten Standards der modernen multimedialen Austellungsnormen. Da unsere Gruppe zu den Besuchern gehört, die mit der Thematik und der Geschichte der Shoah vertraut sind, legen die meisten von uns Ihre Aufmerksamkeit eher auf die Architektur des Gebäudes und die konzeptionelle Gestaltung der Ausstellung.
Das Gebäude hat einen äußerst symbolischen Charakter. Es ist entgegen einer noch von den Engländern erlassenen Vorschrift nicht aus dem üblichen gelben Sandstein, sondern aus grauem Beton errichtet. Es gehört nicht hierher, heißt es. Die Ausstellung befindet sich in einem dunklen unterirdischen Tunnel, der sich am Ende öffnet und in die Freiheit führt. Auch hier wird die Geschichte anhand individueller Schicksale gezeigt.

Das Ende des Museumstunnels
Nach dem Besuch der Gedenkhalle und des Kinder-Memorials haben wir noch eine Stunde Zeit für Mittagessen und den Besuch in der bei dem Museum gelegener Buchhandlung oder in der Allee der Gerechten, bevor wir zum Tal der Gemeinden aufbrechen. Dort wird der jüdischen Gemeinden Europas gedacht, deren Mitglieder in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ihren Tod fanden.
Ich glaube, dass es für uns alle der eindrucksvollste Moment in Yad Vashem ist. Wir gehen zu dem Stein, der der Berliner Gemeinde gewidmet ist. Ein Gedicht wird vorgelesen und ein Blumenstrauß auf den Stein gelegt. Dann kann jeder eine Rose dorthin legen, wo er möchte. Für mich, als Polin und Jüdin, bedeutet diese Stätte sicher etwas anderes, als für den Rest der Gruppe. Ich suche die Namen der Geburtsstädte meiner Eltern und lege dort kleine Steine. Dann lege ich meine Rose vor den großen Steinblock, der Warschau gewidmet ist. Ich würde gerne dort noch eine Weile alleine bleiben, um zwischen den Steinen zu wandern und nachzudenken, doch es geht nicht, wir müssen weiter…

Ein Gedicht für die jüdischen Gemeinden
Auf dem Rückweg fahren wir noch über das Ben Gurion Viertel und steigen kurz an der Knesset aus. Auf dem Weg weiter zum Hotel sehen wir auch die Stelle, wo die Familienangehörigen von Gilat Shalit seine Freilassung aus der palästinensischen Gefangenschaft fordern. Gilat Shalit ist ein von der Hamas vor fünf Jahren in den Gaza-Streifen verschleppter Soldat. 

Zelt der Familie Shalit
Gut ergänzend zu unserem Besuch in Yad Vashem fand ich den Nachmittagsvortrag, in dem uns Uriel Kashi in die Bildungsarbeit der Gedenkstätte einführt und alle Möglichkeiten, uns mit dem im Internet zugänglichem Archiv vertraut zu machen, erläutert. Es sind Informationen, die für viele von uns wichtig sind.

Uriel Kashi
Mit dem Einbruch der Dunkelheit geht der Gedenktag für die gefallenen Soldaten zu Ende und ein neuer Feiertag beginnt: der Unabhängigkeitstag des Staates Israel. Wir gehen ins Zentrum, um zu sehen was los ist. An allen größeren Plätzen wurden Bühnen aufgebaut, wo Konzerte stattfinden. In der Ben Yehuda Strasse – der Fußgängerzone Jerusalems – und auf dem Zionsplatz herrscht Gedränge. Die Stimmung ist fröhlich. Wie so oft in Israel, wo die Traurigkeit in die Freude übergeht…

Sonntag, 8. Mai 2011

Jerusalem, Siedlung Efrat - 08. 05.

Schon der erste Blick vom Ölberg auf die Jerusalemer Altstadt, auf den Tempelberg mit dem Felsendom und auf die tiefe Schlucht darunter, das Tal Joschafat, weckt viele Fragen.

Der Tempelberg

Dr. Gil Yoran, Buchautor, Nahostkorrespondent und Arzt führt uns in seinem geradezu fesselnden Vortrag in die wechselvolle und komplizierte Geschichte der Stadt ein. Er stellt die Frage: Ist sie nun die Quelle des Friedens oder die Krippe des Konflikts? Und vor allem: Warum ist gerade Jerusalem, diese strategisch total bedeutungslose Stadt, zu einem der größten Unruheherde in der Geschichte der Menschheit geworden? Auch die dokumentierte Geschichte liefert auf diese Frage keine plausible Antwort. Denn in Jerusalem zählen nicht historische Fakten, sondern der Glaube, der sich auf die kanonische Geschichtsschreibung stützt, den man nicht mit tatsächlicher Geschichte verwechseln sollte. Kaum ein anderer Ort hat für die drei großen monotheistischen Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam - so große Bedeutung, wie Jerusalem. Und Yaron präsentiert uns ein Foto, durch das sich der Konflikt am besten veranschaulichen lässt: Es zeigt den Tempelberg, wo sich der Stein der Schöpfung, auch Gründungsstein genannt, befindet. Er ist aber auch „ein Zankstein“, wie  sich erweist…

Dr. Gil Yoran während des Vortrags

Eine kurze Einführung in die Geschichte des Tempelbergs:

Für Juden ist er der Felsen, an dem die Schöpfung der Welt anfing und wo Abraham bereit war, seinen Sohn Isaak zu opfern. Hier wurde auch Abel von seinem Bruder Kain getötet. An dieser Stelle auf dem Hügel Morija errichteten die Juden 900 v. Chr. ihren ersten Tempel. 586 v. Chr. wird der Tempel von den Babyloniern zerstört und die Juden verschleppt. Als sie nach 50 Jahren der babylonischen Gefangenschaft zurückkehren, erbauen sie an derselben Stelle den sogenannten Zweiten Tempel. Später blüht die Stadt unter der römischen Herrschaft auf und der Tempelberg wird zu dem wichtigsten religiösen und wirtschaftlichen Zentrum jüdischen Lebens. Doch im Jahre 70 n. Chr. zerstören die Römer den Tempel. Von ihm bleibt nur noch die Westmauer übrig, von den Christen später  „die Klagemauer“ genannt. Fast 2000 Jahre lang haben Juden in der Diaspora in Richtung dieser Mauer gebetet. An den Füssen des Tempelbergs liegt das Tal Joschafat, wo laut des jüdischen Glaubens das Jüngste Gericht stattfinden wird. Kein Wunder also, dass jeder Jude hier, auf dem ältesten Friedhof der Welt begraben werden will, um an Ort und Stelle zu sein, wenn die Zeit kommt. Jerusalem ist einfach in die DNS der Juden eingraviert – sagt Gil Yoran.  

Für Christen ist Jerusalem der Ort der Leiden Christi, seiner Kreuzigung, seines Grabes und schließlich - seiner Auferstehung. Auch auf dem Tempelberg schreiben sie manche Spuren Jesus zu – dort soll seine Beschneidung stattgefunden haben –  weshalb sie den Felsendom als "Templum Domini", Tempel des Herrn, bezeichneten und woher auch der Templerorden seinen Name hat.

Doch unter Christen blieb die vermutete Stelle des Tempels unbebaut, bis sie schließlich die Muslime nach der Eroberung Jerusalems 638 n. Chr. wieder zu einer heiligen Stätte machten. Der von ihnen gebaute Felsendom wurde als Schrein für den Felsen errichtet, auf  welchem gemäß islamischer Überlieferung Abraham bereit war seinen Sohn Ismael (der als ein moslemischer Prophet und der Stammvater aller Araber gilt) zu opfern und an dem angeblich ein Fußabdruck Mohammeds, sowie weitere seiner Spuren gefunden wurden. An gleicher Stelle begann die Himmelfahrt des Propheten Mohammed. Zwar wird die Stelle im Koran nur als „die entfernteste Moschee“ (17 Sura, 1 Vers) angedeutet und den Rest verdanken wir nur mündlichen Überlieferungen, doch der Tempelberg zusammen mit der al-Aqsa-Moschee gelten nach Mekka und Medina als drittwichtigste Heiligtümer des Islams. 

Die Westmauer des babylonischen Zweiten Tempels - Die Klagemauer

Kein Wunder also, dass sowohl Juden, als auch Muslime, Ansprüche auf ihre heiligen Stätten erheben. Lediglich während der Zeit der intensiven Besiedlung des Landes durch die Zionisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt Jerusalem als heiliger Ort keine große Rolle – Zionisten schauen nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. In Ost-Jerusalem auf dem Berg Skopus wird die Hebräische Universität gebaut, die als Symbol des modernen jüdischen Staates dienen und die Rolle des 3. Tempels übernehmen soll. Der Unabhängigkeitskrieg von 1948 endet jedoch mit der Teilung Jerusalems. Der Tempelberg mit der Klagemauer sowie Ost-Jerusalem gehören jetzt zu Jordanien. Erst nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 und nach der Übernahme Ost-Jerusalems mit dem Tempelberg ändert sich der Ethos der Zionisten und die religiösen Symbole des Judentums, mit Jerusalem an der Spitze als identitätsstiftender Faktor spielen für den Staat Israel wieder eine größere Rolle. Und das Land wird immer heiliger – betont Yaron.

Gleichzeitig mit den wachsenden Bestrebungen, einen souveränen Staat zu bilden, fordert die PLO schon ab 1968 die Anerkennung Ost-Jerusalems als ihre zukünftige Hauptstadt. Doch 1980 wird ein vereinigtes Jerusalem von der Knesset zur Hauptstadt Israels ernannt, was auf scharfe Kritik der internationalen Gemeinschaft stößt. Auch in der inneren Politik Israels ist das Thema möglicher Zugeständnisse Israels in punkto Jerusalem umstritten. Die angekündigte Bereitschaft des damaligen Premierministers Ehud Barak, mit der palästinensischen Seite über den Status Jerusalems zu sprechen, beantwortete der damalige Oppositionsführer Ariel Sharon im Herbst 2000 mit einem demonstrativen Besuch auf dem Tempelberg. In dessen Folge kam es zu anhaltenden Unruhen und die 2. Intifada begann.

Die Mauer zwischen Gilo und Jerusalem

Genauso streiten sich die Liberalen und die Linken mit den Konservativen und den Rechten über die Ansiedlung der Juden in Ost-Jerusalem sowie über den Bau jüdischer Siedlungen im Westjordanland. Israel scheint ein Staat zu sein, der immer wieder zwischen Demokratie und Staatsraison – was hier nicht immer dasselbe bedeutet - wählen muss, um seine Existenz zu sichern und zu bewahren. Das ist etwas, das wir Europäer allzu oft vergessen, oder missverstehen…


Die noch am Vormittag geplante Besichtigung einer Siedlung erwarte ich deshalb mit großer Spannung. Um dorthin zu fahren, steigen wir in einen gepanzerten Bus, was in dieser Gegend nichts Ungewöhnliches ist, da manchmal bei einer Durchfahrt durch die arabischen Dörfer Steine fliegen … Der Bus wird uns in die in Judäa gelegene Siedlung Efrat bringen, die sich etwa 15 km südlich von Jerusalem, zwischen Bethlehem und Hebron befindet. Wieder fahren wir an einer Mauer entlang, welche den Jerusalemer Stadtteil Gilo von Bet Jala, einem Vorort von Betlehem trennt.

Unser gepanzerter Bus

Die Mauer wurde zum Schutz der Bewohner Gilos während der 2. Intifada errichtet, als sie sich unter ständigem Beschuss von palästinensischer Seite befanden. 
Ohne Kontrolle passieren wir den „Grenzübergang“ und nach einer kurzen Fahrt erreichen wir die malerisch auf einem Hügel gelegene Siedlung. An der Einfahrt werden wir schon von Bob Lang erwartet. Der 1975 aus den USA eingewanderte Lebensmitteltechnologe und Betriebswirt ist der Leiter des Religiösen Rates in Efrat. Seine Wurzeln hat Lang in Deutschland: seine Mutter stammt aus Düsseldorf, sein Vater aus Berlin und beiden gelang rechtzeitig die Flucht vor den Nazis. Zunächst zeigt er uns die Umgebung und erklärt uns die hiesigen Verhältnisse. Efrat gehört zu der in den 70er Jahren entstandenen Gemeinschaft Kfar Zion, die aus acht nahegelegenen Siedlungen besteht. Die jüdischen Siedlungen sind an ihren roten Dachziegeln sofort zu erkennen. Dazwischen liegen arabische Dörfer mit kleinen weißen Häusern und flachen Dächern. Natürlich gebe es auch hier ab und zu Zwischenfälle, doch das Zusammenleben der Siedler mit der arabischen Bevölkerung verliefe in dieser Gegend friedlich, so Bob Lang.

Bob Lang

Die Siedlung ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Sie sieht sehr gepflegt und wohlhabend aus. Sie zählt etwa 9000 Einwohner (2000 Familien), die aus allen möglichen Ländern kommen und zu 90% religiös sind. Etwa 65% arbeiten in Jerusalem, hauptsächlich als Juristen, Ärzte oder High Tech-Spezialisten. In Efrat gibt es eine Bibliothek, ein Einkaufszentrum, ein Kulturzentrum und eine kleine Klinik, die auch für Araber aus der Gegend zugänglich ist. Ebenso wird für den Nachwuchs, also die durchschnittlich vier Kinder pro Familie gesorgt. Was erklärt, warum es hier 25 Kindergärten, drei Grundschulen, drei Oberschulen, sowie je drei religiöse Schulen für Mädchen und Jungen gibt.

Einer der vielen Kindergärten

Unser Gespräch setzen wir bei Bob Lang zu Hause fort, wo er uns mehr über sich und über die Perspektiven der Siedlungen erzählt. Als ehemaliger Sprecher des Dachverbandes der jüdischen Siedlungen im Westjordanland und Mitarbeiter von „Peace Watch“ und dem „Institute for Peace Implementation“ kennt er sich mit der hiesigen Problematik  bestens aus. „Wir müssen Wege finden, um den Dialog zu verstärken. Und er muss gegenüber den anderen genauso moralisch, anständig und ehrlich sein, wie wir gegenüber uns selbst sind“, sagt er.
Auf dem Weg zurück werden wir zum ersten Mal an dem Checkpoint gehalten. „Wohin wollt ihr?“
„Nach Jerusalem.“ 
„Fahrt weiter!“


Fotos: Anna Maria Adamczyk, Katarzyna Weintraub

Samstag, 7. Mai 2011

Ramallah - 07.05.

Heute früh holt uns Suleiman Abu-Dayyeh vom Hotel ab, um uns den ganzen Tag in Ramallah zu begleiten. Suleiman ist ein Sozialwissenschaftler, der sein Studium in Bochum und Bonn absolviert hat. Seit 1994 leitet er die Palästinaabteilung bei der Friedrich-Naumann-Stiftung in Jerusalem.


Suleiman Abu-Dayyeh

Wir kriegen einen anderen Bus, denn Moti, unser Busfahrer, darf als jüdischer Israeli die Grenze zu palästinensischem Gebiet nicht passieren. Auch umgekehrt: um die Grenze von Ramallah nach Israel durchqueren zu dürfen, brauchen Palästinenser eine Sondererlaubnis, die von den israelischen Behörden ausgestellt werden muss. Seit der zweiten Intifada hat sich die Situation zusätzlich verschlechtert, und die Kontrollen wurden verstärkt, so dass es am Grenzübergang zu ständigen Staus kommt.

Zunächst fahren wir durch Ost-Jerusalem, ein umstrittener Stadtteil, bewohnt, wie Suleiman berichtet, von 180.000 Juden und 240.000 Palästinensern. Dass in den letzten Jahren die Anzahl der jüdischen Bevölkerung stark gestiegen ist, wird von den Palästinensern mit Sorge beobachtet: sie haben immer noch die Hoffnung, dass diese, im Sechs-Tage-Krieg von Israel eroberte, Stadt eines Tages ihnen gehören wird.

Wir nähern uns dem Calandia Checkpoint – dem größten Grenzübergang auf dem Weg nach Ramallah – die Hauptstadt der Autonomiegebiete. Noch vor dem Posten erhebt sich auf einer Seite eine Mauer, die Palästinenser von…. Palästinensern trennt. Und für Israelis Anschläge verhindern soll. „Das ist eine politische Mauer. Alles, was hier passiert ist politisch“, erklärt Suleiman. Wir passieren den Checkpoint ohne Kontrolle – die gelben israelischen Kennzeichen bewirken Wunder!

In Ramallah fahren wir direkt zur Zentrale des Palästinensischen Roten Halbmondes, was unserem Roten Kreuz entspricht. Dort wird der Seminartag stattfinden.

Rammallah im Zentrum


Die Vorträge sind sehr aufschlussreich. Prof. Khali Shikaki, Direktor des Palestinian Center for Policy and Survey Research erzählt uns von den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den Autonomiegebieten. Das Institut erhebt seit Jahren Umfragen zu diesen Themen.
Die größte Tragödie liegt aus seiner Sicht darin, dass 1948 die Palästinenser nicht nur ihre Häuser und ihre Heimat, sondern auch ihre nationale Identität verloren haben. Um sie wiederzugewinnen fordern sie das Rückkehrrecht und die Rückgabe ihres Besitzes, die Rückkehr zu den Grenzen vor 1967, einen souveränen Staat, Ost-Jerusalem als Hauptstadt und Kontrolle über die heiligen Plätze in Jerusalem. Gleichzeitig belegen die Umfragen, dass die meisten Beteiligten in vielen Punkten kompromissbereit sind. Bis auf das Rückkehrrecht, die Anerkennung des Besitzes und die Souveränität der Heiligen Plätze. Deshalb ist gerade in diesen Punkten ein Kompromiss besonders schwierig zu finden. Mittlerweile hat man hier aufgehört, an die Diplomatie zu glauben und fordert eine Resolution des Sicherheitsrates, in der Israel aufgefordert wird, Palästina als souveränen Staat anzuerkennen. Das wurde vor allem von jungen Menschen forciert, die sich schon jetzt auf eine gewaltlose Protestwelle wie Streiks oder Checkpoint-Blockaden vorbereiten, erläutert uns Shikaki. Bald wird es in den Autonomiegebieten eine neue Regierung geben. Mal sehen, was dann passiert. 

Calandia Checkpoint

Professor Mohamoud Yazbak ist Historiker an der Universität Haifa und beschäftigt sich mit den Vertreibungstraumata der palästinensischen Flüchtlinge des Jahres 1948. Er hat an der Uni Haifa ein israelisch-palästinensiches Projekt durchgeführt, das sich anhand von Archivfotos mit der Gedenkkultur auf beiden Seiten konzentriert. Vor allem wollte er wissen, wie sich die junge Generation der Juden und der Palästinenser an die Vertreibung erinnert. Es stellte sich heraus, dass die jungen Palästinenser durch familiäre Tradierung ein sehr klares Bild des Geschehens hatten, während die jüdischen Studenten oft die präsentierten Bilder nicht einordnen konnten. In Israel leben heute 300.000 Palästinenser, die Prof. Yazbak „internal refugees – innere Flüchtlinge“ nennt. Sie sind aus ihren Dörfern vertrieben worden und leben meistens in der Nähe ihrer alten Familienhäuser. Die Erinnerung an Nakba – Katastrophe – ist in diesen Familien immer noch sehr lebendig. Palästinenser – auch arabische Israelis – erinnern sich an diesen Tag der "Nakba". Am 23. März 2011 verabschiedete die Knesset das sogenannte "Nakba-Gesetz", das Institutionen, die "die Fundamente des Staats und seine Werte" untergraben, von der Finanzierung durch öffentliche Gelder ausschließt. So kommt es vor, dass aus Protest in den arabischen Schulen manchmal verweigert wird, über den Holocaust zu Unterrichten. Auf lange Sicht wird diese Politik Israels dem Staat nicht dienen, meint Yazbak.

Neue Häuser in Ramallah

Nach dem Mittagsessen machen wir einen Spaziergang durch die Stadt. Im Zentrum wimmelt es von Menschen. Man sieht vor allem viele junge Frauen mit tuchbedeckten Köpfen, aber einige auch ohne Kopftuch. Überall wird viel gebaut. Ramallah boomt, erklärt uns Suleiman. Auf dem Hauptplatz der Stadt stauen sich die Autos, auf dem Bürgersteig stehen Frauen und Männer, die die Freilassung ihrer Familienangehörigen aus der israelischen Gefangenschaft fordern. Überall hängen Plakate, die an den sich nähernden 63. Jahrestag der Nakba am 15. Mai erinnern. Es ist der Tag, an dem der Staat Israel proklamiert wurde. Für Palästinenser ein nationaler Trauertag.

Forderung nach Freilassung Familienangehöriger am Straßenrand

Wir machen eine Schleife um das Zentrum und kehren zurück zu unserem Seminarraum. Dort treffen wir Dr. Sameech Hamoudeh, Politikwissenschaftler und Anthropologe, Gründer des Ramallah Stadtarchivs. Er referiert über über Erinnerungen und Verarbeitungsmuster bei Flüchtlingen der Jahre von 1948 bis 1967. Er vertritt die Meinung, dass eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts nicht politischer, sondern kultureller Natur sei. Zwei separate Staaten seien keine Lösung, denn irgendwann würden sie wieder gegeneinander kämpfen. Bisher befürworteten alle Projekte eine Separierung der Menschen, statt sie zusammenzuführen. Doch Menschen müssen die Koexistenz praktizieren, um zusammen leben zu können, sagt er. Es ist nicht einfach, gibt er zu, doch auch nicht unmöglich. 

Manal Alkhalde und Muhannad Azzeh
 
Zum Schluss begegnen wir zwei jungen Menschen: Manal Alkhalde und Muhannad Azzeh. Beide sind in Flüchtlingslagern geboren. Manal, gelernte Designerin, arbeitet als Lehrerin in einer UN-Schule im Flüchtlingslager Aljalazon. Muhannad studierte in der Kunsthochschule und beschäftigt sich mit der oral history der Flüchtlinge. Sie erzählen uns von ihren Familien und von dem Leben im Lager, von der Enge und dem Mangel an Privatsphäre, aber auch vom Gefühl der Zugehörigkeit, Vertrautheit und Gemeinsamkeit. Sie sind fest entschlossen, die Erinnerung an die Familiengeschichte aufrecht zu erhalten und sie an ihre Kinder weiterzugeben. Manal möchte sie mal zu dem Ort führen, wo ihre Großeltern herkamen. Muhannad zieht aus der Hosentasche seinen Schlüsselbund, an dem eine Kopie des Hausschlüssels hängt, den seine Oma auf die Flucht mitgenommen hatte. Er trägt den Schlüssel zu einem Haus, das es nicht mehr gibt…

Gegen Abend fahren wir zurück nach Jerusalem. Confused.

Rammalah zur Rush Hour


Fotos: Anna Maria Adamczyk, Katarzyna Weintraub

Freitag, 6. Mai 2011

Tabgha, Genezareth, Golanhöhen - 06. Mai

Heute fahren wir nach Jerusalem – die letzte Station unserer Reise.
Am Morgen treffen wir Henry Stern, Jahrgang 1925, einer der Gründer des Kibbutz Lavi. Stolz führt er die Gruppe durch seinen Kibbutz. Der 1949 auf einem Hügel von Untergaliläa durch 50 Mitglieder der orthodox-jüdischen Pionierbewegung Bachad-Bnei Akiva gegründete Kibbutz gehört zu den reichsten in Israel. Wenn man sich heute seine schönen Einrichtungen und grünen Wiesen anschaut, ist es schwer zu glauben, in welch spartanischen Verhältnissen am Anfang die ersten Kibbutzniks lebten. Im Laufe der Jahre hat sich das geändert. Seinen heutigen Wohlstand verdankt Lavi der traditionellen Landwirtschaft, der Vieh- und Geflügelzüchtung sowie dem Tourismus und einer Fabrik, die Möbel für Synagogen weltweit baut und exportiert. 

Henry Stern

Lavi ist einer von 16 religiösen Kibbutzim. Eine Seltenheit unter den ca. 260 Gemeinschaftssiedlungen in Israel. Das Prinzip dieser Gemeinschaften ist einfach: jedes Mitglied gibt von sich alles, was er kann und bekommt alles, was er braucht. Alle 650 Mitglieder des Kibbutz sind religiös. Da wir am Donnerstag, dem Vorabend des Schabbats/Sabbats eintreffen, sehen wir, wie viele orthodoxe Juden in das 4-Sterne-Kibbutzhotel strömen. Sie kommen hierher, um in der Natur mit ihren Familien das Wochenende zu verbringen, wobei sie sicher sein können, dass alle religiösen Vorschriften eingehalten werden.

Hügel von Galiläa, Blick vom Kibbutz Lavi

Auf unserer Reise über jüdische Erinnerungskultur in der Gegenwart, setzen wir uns ebenso mit den Orten der Wiege des Christentums auseinander. Nach der Abfahrt aus dem Kibbutz begeben wir uns zu dem 16 Kilometer entfernten See Genezareth, wo sich Jesus Christus drei Jahre lang aufgehalten haben soll. In Capernaum hielt er seine erste Predigt, hier bewirkte er laut Erzählungen die meisten seiner Wunder. Unterwegs besuchen wir einen solchen Ort – Tabgha, wo sich die Brotvermehrungskirche befindet.

Die Brotvermehrungskirche in Tabgha

Und schon geht es weiter am See Genezareth entlang Richtung Jordantal. Auf der linken Seite ziehen sich die Golanhöhen entlang, auf der rechten sehen wir jüdische Kibbutzim mit Plantagen von Datteln, Bananen, Granatäpfeln und anderen tropischen Früchten. Wir fahren an dem ältesten Kibbutz Israels, Deganya, vorbei, der schon 1909 gegründet wurde.
Vor 1967 gehörten die Golanhöhen zu Syrien und wurden in dem Sechs-Tage-Krieg von den Israelis erobert. Erst wenn man sich die Nähe des Golan-Plateaus zu den direkt an seinen Füßen liegenden Siedlungen anschaut, wird deutlich, welche strategische Bedeutung die Region hat. In dieser Region gehört die Macht denen, die das Wasser kontrollieren.Wenn man bedenkt, dass sich im Norden des Golans auch drei Quellen befinden, die in den Fluss Jordan übergehen, versteht man es.

Die Golanhöhen

Den Fluss Jordan bekommen wir nur flüchtig zu Gesicht. Ohne Hindernisse und ohne jede Kontrolle überschreiten wir die „Grenze“ zur West Bank und fahren weiter die jordanische Grenze entlang. Seit dem 1994 mit Jordanien unterschriebenen Friedensvertrag ist sie die ruhigste Grenze Israels und nur mit einem niedrigen Stacheldrahtzaun markiert. Auf der rechten Seite fahren wir an Jericho vorbei, die älteste Stadt der Welt, die 13.000 Jahre zählt. Jetzt befinden wir uns an der alten Pilgerstrasse, die Jesus von Jericho nach Jerusalem nahm. Wieder kommt ein Checkpoint und schon nähern wir uns dem Toten Meer – dem niedrigsten Punkt der Welt. Zum Bedauern Vieler biegen wir ab und begeben uns direkt nach Jerusalem, wo Hanni, unsere Reiseleiterin, noch viel mit uns vor hat. Auf dem Weg sehen wir Beduinendörfer, die aus sehr einfachen Behausungen mit Zeltplanen und Wellblech bestehen.

Blick vom Ölberg

Dann sind wir schon in der Heiligen Stadt und vom Ölberg bekommen wir den ersten Panoramablick auf Jerusalem mit dem Tempelberg und der goldenen Kuppel des Felsendoms in der Mitte zu sehen. Atemberaubend. Dann geht es los in die Altstadt. Hier spricht jeder Stein Geschichte. Zunächst halten wir eine Weile an der Klagemauer. Man sieht hier viele ultraorthodoxe Juden, die noch vor dem Schabbatanfang an der Mauer beten. Natürlich beten Männer und Frauen separat. 

Betende an der Klagemauer

Hanni führt uns entlang der Stationen der Via Dolorosa, dem letzten Weg Christi, bis zur Grabeskirche, wo er gekreuzigt und begraben sein soll. Hier wimmelt es nur so von christlichen Pilgern aus allen möglichen Nationen und Orientierungen. Dann laufen wir durch die schmalen bedachten Gassen des arabischen Basars, den suk, und weiter bis zum Jaffa-Tor, wo der Bus schon wartet, um uns ins Hotel zu bringen.

Die Tage hier sind so spannend, dass ich erst jetzt merke, dass ich noch das Wetter hier mit keinem Wort erwähnt habe. Also, es ist in Ordnung, aber kühler als in Tel Aviv.

Jerusalems Altstadt

Fotos: Anna Maria Adamczyk, Katarzyna Weintraub

Mittwoch, 4. Mai 2011

Arabisch-Israelische Betrachtungen. Givat Haviva und Bartaa

Wir verlassen Tel Aviv und begeben uns nach Givat Haviva. Es ist eine Bildungs- und Begegnungstätte, die sich für jüdisch-arabische Verständigung einsetzt. Sie wurde 1949 gegründet und hat ihren Sitz in einem südlich von Haifa gelegenen Areal der (links-sozialistischen)  Kibbutz - Artzi Bewegung. Hier beginnen wir, uns eingehender mit jüdisch-arabischen Problemen zu beschäftigen. 

jüdisch-arabisches Zentrum für Frieden

An der Einfahrt erwartet uns schon an einer breiten Wiese Lydia Aisenberg. Sie wurde 1946 in Wales geboren und wanderte 1969 nach Israel ein, wo sie seitdem als freie Journalistin und Mitarbeiterin von Givat Haviva tätig ist. 

Ayelet Roth und Samer Atmane

Nachdem sie uns die Aktivitäten der Begegnungsstätte erklärt hat, stellt sie uns den Direktor für Entwicklung des „Abraham Fund“, Mohammad Darawsche, vor. Er berichtet uns aus arabisch-israelischer Sicht über Geschichte und Probleme, die seit der Gründung des israelischen Staates im Mai 1948 bis heute das Zusammenleben der beiden Bevölkerungsgruppen beeinflussen.

Auf einer Zeitskala markiert er die besonderen Ereignisse dieser Geschichte. Als eine der größten Tragödien sieht er die Flucht und Vertreibung der Palästinenser und den damit verbundenen Verlust der Eliten. Erst nachdem die Araber, die in Israel blieben (und auch die israelische Staatsbürgerschaft erhielten), mit den Jahren den Status quo akzeptierten, und die Israelis die palästinensische Bevölkerungsgruppe 1966 unter zivile Verwaltung stellten, entspannte sich die Lage. Die Araber fingen an, sich zu „israelisieren“, ihre Eliten und eine Mittelschicht aufzubauen. Das bedeutete aber nicht, dass sie ihre Hoffnung auf das Rückkehrrecht und auf die Rückgabe des von den Israelis annektierten Landbesitzes aufgegeben haben.

Checkpoints wie diesen gibt es überall im Land

Erst die Osloer Verträge, die 1992 unterschrieben wurden, weckten neue Hoffnung auf eine erfolgreichere Koexistenz. Das Vertrauen in die Politiker wuchs, als Ehud Barack 1999 in der Wahlkampagne versprach, die vier arabischen Parteien in die Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. Er hat jedoch sein Versprechen gebrochen, und das Vertrauen ist seitdem wieder gesunken. Die Forderung nach einer Repräsentation in der Knesset erfüllte sich erst 2007, als der erste arabische Minister ins Kabinett aufgenommen wurde. Kurz darauf betonte der israelische Präsident in einer Rede, dass in Israel Araber „institutionell und freiheitsberaubend diskriminiert“ würden. Doch auch dieser Satz trug nicht zu einer Annäherung zwischen den Juden und den israelischen Arabern bei. Nach wie vor leben sie mit dem Rücken zueinander. Auch die getrennten Schulsysteme sind nicht sonderlich hilfreich für die Kommunikation.

Deswegen fand ich die Präsentation des von Givat Haviva geführten Projekts „Face-to-face encounters“ äußerst interessant. Darin handelt es sich um organisierte und fachmännisch geleitete Begegnungen zwischen arabischen und jüdischen Schülern. Nach der Vorbereitung kommen sie nach Givat Haviva zu einem zweitägigen Workshop, der sie füreinander und ihre jeweilige Auffassung der Geschichte sensibilisieren soll. Dadurch entstehen erste Kontakte, die notwendig sind, um einen Dialog aufzunehmen. Ayelet Roth, jüdische Co-Leiterin des Projekts und Samer Atmane, der arabische Koordinator, die uns das Projekt vorgestellt haben, sind sich bewusst, dass man hier keine Wunder erwarten kann. Die wechselseitige Verständigung ist ein mühsamer Prozess, hier wird geholfen, die ersten Schritte in diese Richtung zu machen.

Lydias Karte von der Grünen Linie

Dann wird es spannend. Lydia Aisenberg fährt mit uns an der Grünen Linie entlang. So heißt die Grenzlinie, de jure immer noch Waffenstillstandslinie seit dem israelisch-arabischen Krieg 1948/49, die Israel von den palästinensischen Autonomiegebieten trennt. Die Grüne Linie ist mit dem Auge nicht zu erkennen. Wir verfolgen sie auf einer Karte, die Lydia für uns vorbereitet hat. Auf dieser Karte ist auch eine andere Linie zu sehen, die einigermaßen parallel zu der grünen verläuft. Sie markiert den Weg der Sperranlage. Diese besteht hauptsachlich aus einem Zaun und Stacheldraht, nur zu 20% aus einer Mauer. Sie wurde in der Zeit der Zweiten Intifada von Israel errichtet, als sich der Staat und seine Bewohner zunehmend von palästinensischen Selbstmordattentaten bedroht sahen. Einerseits verständlich. Andererseits aber empörend, denn sie befindet sich an manchen Stellen tief im (theoretisch) palästinensischen Gebiet. Wir fahren nach Bartaa. Es ist ein Dorf, wo wir die ganze Absurdität der Lage vor Augen haben. Bartaa wurde in Folge des 1. israelisch-arabischen Kriegs bis 1967 in einen westlichen israelischen und einen östlichen palästinensischen Bereich geteilt und ist mittlerweile ein "Dorf mit gespaltener Persönlichkeit". Zum Beispiel besitzen mehr als dreihundert Einwohner Ost-Barta’as einen israelischen Pass. Das begehrte Dokument erhielten sie über ihre eingeheirateten Frauen, die West-Barta’aris und damit Israelinnen sind. Die aus diesen Ehen hervorgegangenen Kinder haben wiederum das Recht, eine Schule auf der israelischen Seite zu besuchen.
„Are you confused, seid ihr verwirrt?“, fragt Lydia. „Weil wenn ihr nicht verwirrt seid, dann stimmt etwas nicht“. Wir geben zu, wir sind confused. Sogar very confused…

An der Grenze auf israelischer Seite

Über diese Brücke verläuft die Grüne Linie



Auf der arabischen Seite der Grünen Linie

Dienstag, 3. Mai 2011

Zwischen jüdischer Erinnerungskultur und Sicherheitspolitik. Tel Aviv, der dritte Teil

Es ist unmöglich, die jüdische Erinnerungskultur in Israel zu verstehen, ohne zu wissen, was die Shoah und die Religion für jüdische Israelis bedeuten. Das vermittelte uns in zwei Vorträgen Prof. Natan Sznaider, Dozent für Soziologie am Tel Aviv College.


Bis zum Eichmann-Prozess wurde die Shoah weder in der Schule, noch in der breiten Öffentlichkeit besonders ausführlich thematisiert. Das Bild der Juden als Opfer passte nicht gut zu dem Bild des „neuen Hebräers“. Auch die Überlebenden wollten die Grausamkeiten des Krieges so schnell wie möglich vergessen, um ein neues Leben in "Erez Israel" zu beginnen. Doch das änderte sich nach dem Eichmann-Prozess, der 1961 in Jerusalem stattfand. Zum ersten Mal erhielten Zeitzeugenaussagen die gleiche Gewichtung wie schriftliche Dokumente. 









Der Campus der Bar Ilan-Universität




Von nun an wurde die Geschichte der Shoah zur Geschichte des gesamten jüdischen Volkes. Es entstanden zahlreiche wissenschaftliche Institute und Bildungseinrichtungen, die sich noch heute ausschließlich mit der Geschichte der Shoah beschäftigen, in der die Zeitzeugen und die oral history eine wichtige Rolle spielen. Auch die Juden, die nicht aus Europa stammen und den Holocaust nicht selbst erlebten, haben diese Geschichte als ihre eigene angenommen. Ich habe den Eindruck, dass in der israelischen Realität die Shoah wie eine Art "staatsbürgerliche Religion" wirkt, die ein wesentliches Element der nationalen Identität ist. Und natürlich ist sie wie alles, was Gegenstand tiefer Emotionen ist, ein ideales Feld für Manipulation und Instrumentalisierung. Ein Beispiel dafür sind für mich die Reisen der israelischen Jugendlichen nach Polen, die sich ausschließlich auf die Besuche der ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager beschränken. So kommt es, dass die Polen statt der Deutschen des Holocaust beschuldigt werden. Eine Kollegin aus unserer Gruppe bezeichnete das als fatal. Ich stimme ihr zu.


Interessant fand ich Sznaiders Auffassung zur israelischen Gesellschaft, die seiner Meinung nach aus mehreren Gesellschaften bestehe. Die meisten Israelis halten sich für Europäer. In der Tat, dachte ich mir. Erkläre mal einem Israeli er sei Asiate – dann wirst du was erleben! So nimmt Israel obwohl nicht offiziell Europa zum Beispiel am Eurovision Song Contest und an den Europameisterschaften im Fußball teil. In Wirklichkeit aber liegt das Land im Nahen Osten, von Feinden umringt. Und die Gesellschaft ist alles andere als homogen. Die kulturellen Unterschiede, die sich hauptsächlich auf das Herkunftsland der Familie und auf die religiöse Einstellung beziehen, sind enorm. Dennoch ist Sznaider der Meinung, dass gerade die Religion das Bindemittel der Gesellschaft sei. Sie erklärt nicht nur, sondern legitimiert auch die Existenz des gemeinsamen Staates in der Region. Ohne Religion sei der Zionismus nicht zu begreifen. Auch die säkularen Juden seien von der Religion nicht frei. Sie ist überall präsent – im Alltagsleben, in Kultur und Geschichte, in der Politik, und last but not least – in der hebräischen Sprache. Für alles, auch die Dinge, die heute geschehen, findet man entsprechende Stellen in der Thora. (Beispielsweise wird der 6-tägige Krieg 1967 hier von manchen unmittelbar mit der Schöpfung der Welt in sechs Tagen assoziiert!)







Professor Inbar am Rednertisch



Schon ein paar Stunden später bekräftigt das auch Prof. Ephraim Inbar von der Bar Ilan-Universität, indem er sagt: „schon zweimal haben wir unser Land verloren, und das dritte Mal lassen wir es nicht zu.“ Damit meint er die Verschleppung der Juden nach Babylon (586 v.Chr.) und die Vertreibung aus Israel nach der Zerstörung des Zweiten Tempels (70 n.Chr.). Die Bar Ilan-Universität ist eine religiöse Hochschule (dennoch studieren hier nicht nur religiöse Juden, sondern auch arabische Israelis und säkulare Juden) und Ephraim Inbar ist im Lande einer der bekanntesten Sicherheitsexperten. Er gehört zum konservativen Flügel und ist der Meinung, dass Israel ausschließlich auf sich selbst gestellt sei, daher steht die Sicherheit des Landes für ihn an erster Stelle. Die Legitimation dafür gibt ihm die Geschichte. Die (negativen) Reaktionen der internationalen Gemeinschaft und Kritik sind für ihn daher von geringer Bedeutung.










Der Markt in Tel Aviv




Am Nachmittag erwartet uns eine Filmvorführung im Hotel. Chanoch Zeevi, ein junger Filmemacher hat gerade im Rahmen eines Projekts einen Dokumentarfilm gedreht. In „Hitler Kinder“ lässt er Kinder, Enkelkinder und weitere Verwandte von hohen Funktionären des Nationalsozialismus zu Wort kommen. Unter anderen die Nachkommen von Heinrich Himmler, Hermann Göring und Rudolf Höß erzählen, was diese Bürde für sie bedeutet und wie sie ihr ganzes Leben geprägt hat. Es ist ein zweiter Teil geplant, in welchem er mit Kindern und Enkelkindern der Opfer sprechen wird. Wie viele Israelis der jüngeren Generation spürt er ein dringendes Bedürfnis, einen Dialog zwischen den Nachkommen beider Seiten zu initiieren. Nur durch Dialog könne man in den zwischenmenschlichen Beziehungen etwas bewegen, meint er.








Der junge Or Ben Ezra - einer von vier Nightguides




Am Abend empfangen wir vier junge Leute, die sich vorgenommen haben, uns das Nachtleben in Tel Aviv zu zeigen. In kleinen Gruppen machen wir uns in die Stadt auf. Ich schließe mich Or Ben Ezra an. Er führt uns in ein kleines Restaurant in der Innenstadt, wo wir beim köstlichen Essen über dies und jenes plaudern. Er will von uns vieles wissen, und wir von ihm. Or studiert Theaterwissenschaften und ist ein Musiker. Seine Familie stammt aus dem Iran und betreibt einen Catering-Service für persische Küche, um sein Studium zu finanzieren. Die Studiengebühren sind hoch – etwa 3000 Dollar pro Jahr. Dabei kommen wir auf die staatliche Sozialpolitik, die er scharf kritisiert. Auf meine Anmerkung, dass der Staat vor allem für Sicherheit sorgen muss, reagiert er empört. Es gibt vieles, was vernachlässigt wird, wie z.B. die Schulen oder die armen und alten Leute. Und immer mit dem gleichen Argument: die Sicherheit. Aus seiner Sicht lässt auch die israelische Demokratie viel zu Wünschen übrig. Die Minderheiten werden diskriminiert…. Wir leben hier und wir leben heute, sagt er. 









Or hat seine eigene Meinung zur Sozialpolitik Israels


Nach dem Essen wollen wir noch in eine Bar und landen in einem im Hinterhof versteckten Club für Lesben. Der Wein ist gut, die Gesellschaft lustig, der DJ sorgt zusätzlich für eine gute Stimmung und es gibt sogar einen Raum für RaucherInnen! Einfach toll!